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SPD-Chef führt die Genossen nicht als Spitzenkandidat in die Bundestagswahl im Herbst und legt den Parteivorsitz nieder.
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Berlin/Wien. Noch vor einer Woche standen alle Zeichen auf Sigmar Gabriel. Der SPD-Chef sei als Spitzenkandidat für die Bundestagswahl am 24. September nicht mehr zu verhindern, raunten vermeintliche Parteiinsider den Medien zu - und somit Kanzlerkandidat und erster Herausforderer Angela Merkels. Am Dienstag wendete sich völlig überraschend das Blatt: Gabriel tritt den Rückzug von Kandidatur und Parteispitze an. Der scheidende Chef der deutschen Sozialdemokraten schlägt den früheren EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz für beide Ämter vor.
Gabriels Abtritt wurde von ihm selbst gezielt in den Medien platziert. Während er der SPD-Bundestagsfraktion seine Beweggründe erläuterte, vermeldete die "Zeit" den Rückzug des 57-Jährigen. Das Hamburger Magazin berief sich dabei auf mehrere Gespräche mit Gabriel, der "nach einem halben Jahr Nachdenken, Zweifeln, Ringen, nach Fahrplanänderungen und Freundschaftskrisen" nun mit sich im Reinen sei. Am Dienstagabend erklärte sich der deutsche Wirtschaftsminister auch vor der SPD-Parteiführung.
Eigentlich wollten die Genossen nach einer Vorstandstagung am Sonntag dieser Woche bekanntgeben, wer die SPD in die Wahl führt. Neben Gabriel und Schulz wurden dem Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz Außenseiterchancen eingeräumt. Bei seiner Abgangserklärung lässt Gabriel aber keinen Zweifel daran, dass er Schulz für den geeigneten Kandidaten im Rennen um das Berliner Kanzleramt hält - und verwies auf die Umfragewerte. Denn mit der Arbeit der CDU-Vorsitzenden Angela Merkel als auch jener von Martin Schulz sind 57 Prozent der Deutschen zufrieden. Das ergab der ARD-Deutschlandtrend im Dezember. Gabriel rangiert mit 43 Prozent Zustimmung deutlich dahinter. Noch klarer ist der Abstand bei der hypothetischen Frage der direkten Kanzlerwahl: Im Duell Merkel gegen Schulz behielte die Amtsinhaberin mit 43 zu 36 Prozent die Oberhand. Gabriel wäre gegen Merkel mit 19 zu 57 Prozent untergegangen.
Symbol der großen Koalition
Nicht nur in den Umfragen kam Gabriel schlecht weg, sondern auch innerhalb der SPD. 2009 trat er das Amt des Parteivorsitzenden an, damals erreichte er 94,2 Prozent. Bei seiner letzten Wiederwahl 2015 votierten nicht einmal mehr drei Viertel der Delegierten für Gabriel. Ihn brachte das Amt des Wirtschaftsministers immer wieder in Konflikt mit seiner Rolle als SPD-Vorsitzenden, etwa, wenn es um Waffenexporte ins Ausland ging. Auch war Gabriel immer mehr Teil einer Koalition, die in Deutschland nur in Krisenzeiten als stabilitätsbildende Maßnahme gerne gesehen wird. Er diente in beiden schwarz-roten Regierungen Merkels als Minister. 2005 bis 2009 war er für die Umweltagenden zuständig, seit 2013 für Wirtschaft. Nur Wolfgang Schäuble, Thomas de Maizière aufseiten der CDU und SPD-Außenminister Frank-Walter Steinmeier gehörten beiden Regierungen an. Zudem pflegte Gabriel in dieser Zeit zumindest ein gutes Verhältnis zu Merkel.
Wofür steht Schulz?
Der SPD-Basis graut vor der Vorstellung, nach der Wahl im Herbst nochmals als Juniorpartner auf der Koalitionsbank platznehmen zu müssen. Doch unter Gabriel gab es in den Umfragen keine Perspektiven, seit der Bundestagswahl 2013 lag sie in keiner einzigen bundesweiten Umfrage über 30 Prozent. "Wir wollen einen Neuanfang", sagte der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach geradezu erleichtert nach Gabriels Entscheidung am Dienstag. "Mit Martin Schulz haben wir in dieser Zeit bessere Chancen."
Schulz’ Wahlkampfbilanz ist gemischt: 2004, als er erstmals Spitzenkandidat der SPD bei der EU-Wahl in Deutschland war, stürzten die Sozialdemokraten um mehr als 9 Prozentpunkte auf 21,5 Prozent ab. Auch, weil die Wähler dem damaligen SPD-Kanzler Gerhard Schröder einen Denkzettel für seine Agenda-2010-Reformen verpassten. Fünf Jahre später unterbot Schulz sein Ergebnis nochmals, die SPD landete bei 20,8 Prozent - zu jener Zeit das schlechteste Abschneiden der Partei bei bundesweiten Wahlen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Erst bei der Europawahl 2014 legte die SPD zu, dann aber deutlich auf 27,3 Prozent. Ob er Merkel Paroli bieten kann, muss sich erst zeigen. Die Erfahrung spricht jedenfalls für die Kanzlerin, schließlich geht sie in ihren vierten Bundestagswahlkampf als Spitzenkandidatin.
Als glühender Europäer ist Schulz jedenfalls Gegenentwurf zu den vielfachen EU-Untergangsszenarien. Wofür er innenpolitisch steht, muss der 61-Jährige den Bürgern erst erklären. Etwa, wie er es mit einer rot-rot-grünen Koalition hält. "Ob Martin Schulz ein Zeichen für einen fortschrittlichen Politikwechsel wird, ist unbestimmt", sagte die Vorsitzende der Linken, Katja Kipping. Ihre Kriterien: Reiche besteuern, Armut wirksam bekämpfen und Europa nicht zu einer Militärmacht ausbauen. "Ich habe so meine Zweifel", sagte Kipping Richtung Schulz. Die Grünen zollten Gabriel Respekt, hielten sich mit Aussagen über Schulz zurück.
Der gescholtene Gabriel blickt derweil besseren Zeiten entgegen. Er möchte vom Wirtschafts- ins Außenministerium wechseln; Amtsinhaber Steinmeier wird Mitte Februar neuer Bundespräsident. Und Außenminister sind in Deutschland per se beliebt.