Vor 30 Jahren putschte sich Muammar Gaddafi als Anführer der "Zwölf Freien Offiziere" an die Macht und stürzte den König von Libyen. Trotz mehrerer Attentatsversuche, einem schweren Angriff | amerikanischer Bomber, bei dem auch nahe Verwandte und Freunde des Staatschefs starben, und beinharten Wirtschaftssanktionen sitzt der "Rebell aus der Wüste" heute fester im Sattel als jemals zuvor. | Im nachfolgenden ein Bericht über Muammar Gaddafis Weg zur Macht.
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Während sich im Jahr 1942 die Schlacht um Nordafrika ihrem dramatischen Höhepunkt näherte, wurde ein paar Dutzend Kilometer südlich des libyschen Küstenortes Syrte im Zelt des Beduinenpaares
Aischa und Abumeniar ein Sohn geboren. Die Beduinenfamilie, die heute noch in dieser Gegend lebt, gehört zu den Nachfahren des "Kathathfa-Stammes", der nach dem Moslemheiligen Kathaf Adam benannt
wurde. Daher stammt der Name Gaddafi, der auch "Khataffi" und in anderen Versionen geschrieben wird, wie ja überhaupt die Übersetzung arabischer Namen oft Schwierigkeiten bereitet.
Beduinen kennen
keine Grenzen
Für diese Beduinen gab es keine Staatsgrenzen. Sie ziehen mit ihren Ziegen und Kamelen durch die endlose Weite Nordafrikas · dem Wetter und Wasser nach. Ihre Heimat sind die riesigen Steppen und
Wüsten zwischen Ägypten und Marokko. Ein Verständnis für die Grenzen, die auf den Reißbrettern der früheren Kolonialmächte gezogen wurden, kann man von diesen Menschen nicht erwarten. Offenbar hat
diese Einstellung auch den jungen Gaddafi schon von Kindheit an geprägt. Dazu kam später seine glühende Begeisterung für Gamal Abdel Nassers panarabische Ideen · der Traum vom Zusammenschluss aller
Araber vom Atlantik bis zum Persischen · von den Arabern jedoch "Arabischer Golf" genannten Meeresarm des Indischen Ozeans.
Koran · Unterricht
im Wüstenzelt
Doch vorläufig wuchs der junge Muammar noch so auf, wie alle anderen Beduinenbuben. Ab und zu kam ein "Fakih" ins Lager, einer jener Religionslehrer, die von Stamm zu Stamm ziehen. Der Fakih holte
sich die Buben in ein Zelt und brachte ihnen ein bisschen Lesen und Schreiben, vor allem aber einige Koranverse bei. Angesichts des damaligen Mangels an Schulen hatte selbst in den Städten nur ein
geringer Teil der Kinder die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Trotzdem gelang es Muammar zwischen 1954 und 1957, in mehreren Orten Volksschulen zu besuchen, was durch den Ortswechsel seiner
Eltern bedingt war. In Sabha, der Hauptstadt der südlibyschen Provinz Fezzan, kam er dann auf ein College, wurde jedoch 1961 wegen der Vorbereitung und Teilnahme an Demonstrationen ausgeschlossen.
Immerhin konnte er sich während dieser Zeit mit dem Gedankengut der arabisch-sozialistischen "Baath-Partei" (deren rivalisierende Fraktionen heute den Irak und Syrien regieren) und anderen
politischen Strömungen in der arabischen Welt vertraut machen.
Ein Vorfall, der sich 1962 während seines Schulbesuches in Misurata zutrug, mag charakteristisch sein: Alle Schüler pflegten "aufzuspritzen", wenn ein Lehrer das Klassenzimmer betrat. Als Mister
Johnston, der Englischlehrer, eines Tages die Klasse betrat, blieb ein Schüler provozierend auf seinem Platz sitzen · Muammar Gaddafi.
Rebellischer Schüler
Zur Rede gestellt, hielt er dem Engländer einen Schlüsselanhänger mit dem Porträt Nassers vor die Nase. Auf die Aufforderung, die Klasse zu verlassen, antwortete er: "Wenn einer geht, dann sind
Sie es, Sie Kolonialist!" Dass Gaddafi nicht aus der Schule hinausflog, verdankte er dem Schuldirektor, der im Geheimen ebenfalls mit Nasser sympathisierte.
Kampf gegen "Teufel
Alkohol"
1964 erfolgte seine Aufnahme in die Militärakademie von Benghasi. In der "Ekulia Eskaria" wuchs die Gruppe der jungen Kadetten, die in starker Opposition zum Königsregime stand, und organisierte
sich auf einer breiteren Grundlage. Schon damals verpflichtete Gaddafi seine Mitverschwörer, Alkohol und den Besuch zweifelhafter Vergnügungsstätten zu meiden. Ein Autounfall, in den er als Mitfahrer
verwickelt wurde, und bei dem im Wagen eine Whiskyflasche, die allerdings nur mit destilliertem Wasser gefüllt war, gefunden wurde, mag seine religionsbedingte Abneigung gegen den "Teufel Alkohol"
noch verstärkt haben.
Unglückliche Begegnung
mit Europa
Im August 1965 schloss er den Besuch der Militärakademie erfolgreich ab. Anfang 1966 wurde er zusammen mit einer Gruppe libyscher Offiziere nach Beaconsfield in England eingeladen. Es war Gaddafis
erste Begegnung mit Europa · und keine besonders glückliche. Besonderen Unwillen der jungen Libyer erregte ein britischer Major, der ihnen mit vielen politischen Fragen auf den Zahn fühlen wollte.
Gaddafi verschanzte sich daher schließlich hinter angeblich schlechten Englischkenntnissen. Auch auf die von einigen englischen Offizieren zur Schau getragene Arroganz reagierten die freien Söhne der
Wüste sehr empfindlich. Wohl fühlte sich Gaddafi nur in der grünen englischen Landschaft, während in London, durch das er in seiner libyschen Nationaltracht wanderte, mehr oder weniger kalt ließ.
Umsturzpläne der
"Freien Offiziere"
Nach Libyen zurückgekehrt, nahmen die Umsturzpläne der "freien Offiziere", wie sie sich nach Nassers Vorbild nannten, immer konkretere Formen an. Dabei mussten sie sehr auf der Hut sein, denn der
König traute der regulären Armee schon lange nicht mehr recht. Er stützte sich vielmehr auf eine aus königstreuen Sahara-Stämmen zusammengestellte und modernst ausgerüstete Elitetruppe, die
"Cyrenaica Defence Force". Nicht vorhersehbar war die Reaktion der auf libyschem Boden stationierten amerikanischen und britischen Truppen auf einen Militärputsch der "Freien Offiziere".
Die Amerikaner hatten in den fünfziger Jahren das vor den Toren der Hauptstadt Tripolis gelegene "Wheelus Airfield" zu einem ihrer bedeutendsten Luftstützpunkte ausgebaut. Zeitweise waren auf dem
1.000 ha großen Gelände, das direkt am Meer lag, über 5.000 Mann mit ihren Familien stationiert. Sie hatten in diesem "Mini-Amerika" ihre eigenen Villen, Clubs, Schulen, auch ihre eigene Wasser- und
Stromversorgung und natürlich ihre US-Währung. Großbritannien wiederum hatte sich gegen die Bezahlung von 3,75 Mill. Pfund pro Jahr zwei RHF-Basen in der Cyrenaika und die Stationierung einer
Panzerdivision gesichert. Frankreich hielt bis zum Jahre 1956 den südlichen Fezzan besetzt.
Nasser, vor allem aber auch den nationalistischen Schülern, Studenten und jungen Offizieren waren diese ausländischen Stützpunkte ein Dorn im Auge. Als Öl gefunden wurde, erwarben multinationale
Ölgesellschaften Konzessionen für 600.000 km² Land und kontrollierten praktisch das "schwarze Gold" von der Förderung bis zum Export. Auch stießen sich die jungen Nationalisten an der Tatsache, dass
in den Städten Libyens immer noch Zehntausende Italiener und andere Ausländer Handel und Gewerbe, Banken und Versicherungsgesellschaften dominierten. Nach ihrer Ansicht wucherten rund um die an sich
integre Gestalt des Königs, der sein Amt immer mehr als Bürde denn als Würde empfand und mehrmals öffentlich mit seiner Abdankung drohte, die "Krebsgeschwüre" von Korruption, Palastintrigen,
Vetternwirtschaft und Dekadenz.
In den Randbezirken der Städte schwollen indessen die Slums mit hungernden, bettelnden Kindern. Alle Ansätze für Reformen gingen den jungen Männern zu langsam vorwärts. Pausenlos trommelte die
Propaganda Nassers, der leuchtendes Vorbild und große Hoffnung war, auf die libyschen Massen. Es wurde immer deutlicher, dass die wachsende Gärung so oder so zu einer Explosion führen musste. Schon
am zehnten Jahrestag der Unabhängigkeit Libyens, am 24. Dezember 1961, war ein Putschversuch von Anhängern der syrischen Baath-Partei gescheitert.
Auch die "Zwölf Freien Offiziere" wussten, dass die Zeit drängte. Mehrmals musste der geplante Putsch verschoben werden. Gaddafi selbst hat über diese Zeit Aufzeichnungen in 14 Kapiteln geführt, doch
ist von einer offiziellen Chronik nichts bekannt. Da gleichzeitig in Benghasi, in Tripolis und Sebha losgeschlagen werden musste, gestalteten sich die Vorbereitungen angesichts der riesigen
Entfernungen zwischen diesen Städten äußerst schwierig.
"Operation Jerusalem"
begann um Mitternacht
Am 1. September 1969, kurz nach Mitternacht, schlug endlich die "Stunde Null" für den Putsch. In Beida wurde der Premierminister Libyens, der · Ironie des Schicksals · Weinis Gaddafi hieß,
verhaftet. Nicht überall ging es ohne Pannen und unvorhergesehene Überraschungen ab. Doch als sich die Sonne über der Sahara erhob, war es sicher: Die "Operation El Kutz" (Operation Jerusalem) war
gelungen. Der König, der gerade in Ankara weilte, ging nach Ägypten ins Exil. In Libyen aber begann die "Revolution", die den Libyern zwar "Segnungen" des Westens vorenthielt, ihnen jedoch einen
höheren Lebensstandard brachte als allen afrikanischen Nachbarn.