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Führende Figuren des alten Regimes immer noch aktiv. | Diktator wendet sich per Radio an die Bevölkerung.
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Tripolis. Die Lage scheint aussichtslos, doch Gaddafi-treue Truppen leisten den Rebellen in Tripolis hartnäckigen Widerstand. Zwar bekommen die Oppositionellen die libysche Hauptstadt schrittweise in ihre Gewalt – die Rede ist davon, dass sie 85 Prozent des Terrains kontrollieren. Die Armee des Diktators ist aber noch lange nicht geschlagen. In einigen Vierteln der Hauptstadt, vor allem in Abu Selim, ist ein verbissener Kampf Haus um Haus entbrannt. Selbst in der Residenz Gaddafis wurde weitergekämpft. Gaddafi-treue Scharfschützen stellen immer noch eine Bedrohung für die Aufständischen dar, die weitläufige Anlage wurde mit Granaten beschossen. Im Vorort Al-Hadaba al-Chadra toben erbitterte Kämpfe um die Kontrolle über den internationalen Flughafen. In der Nähe von Zawiyah wurden vier italienische Journalisten entführt, ihr Begleiter getötet.
"Ratten" in Tripolis
Gaddafi überrascht unterdessen mit skurrilen Radio-Botschaften. Am Mittwoch ließ er wissen, dass er sich immer noch in der Hauptstadt befinde. "Ich gehe unerkannt spazieren, ohne dass die Menschen mich sehen", so Gaddafi in einer von dem in Syrien ansässigen Sender Arrai ausgestrahlten Botschaft. Er habe eine Tour durch die libysche Hauptstadt gemacht und dabei den Eindruck gewonnen, dass die Stadt "nicht in Gefahr" sei. Er appellierte an alle Einwohner "die Stämme, die Jungen, die Alten", auf die Straße zu gehen und "Tripolis von den Ratten zu säubern". In der Tat haben Bewohner des Bezirks Abu Selim zugunsten Gaddafis zu den Waffen gegriffen, berichtet Al Jazeera. Den Aufständischen warf er vor, dass sie Gefangene foltern und exekutieren würden. Er, Gaddafi, werde bis zum Sieg gegen die Nato weiterkämpfen oder als Märtyrer sterben.
Schon zuvor hatte der Oberst, der Libyen 42 Jahre lang mit eiserner Faust beherrscht hat, per Audiobotschaft wissen lassen, dass er seine Residenz nur aus "taktischen Gründen" verlassen habe. Die Anlage sei nach den zahlreichen Angriffen der Nato wertlos und nur ein Schutthaufen gewesen. Die Rebellen waren am Dienstag nach fünfstündigen Kämpfen in die weitläufige Palast- und Bunkeranlage eingedrungen.
Gaddafi, auf den die Rebellen laut Al Jazeera ein Kopfgeld von rund 1,14 Millionen Euro ausgesetzt haben, könnte von dort in letzter Sekunde entkommen sein. Denn die Residenz verfügt über 30 Kilometer lange Tunnels, die Verbindungen zu anderen Stadtteilen aber auch ans Meer herstellen. Gaddafi hat vorgesorgt und Zeit seiner Herrschaft an die Möglichkeit eines Putsches oder Aufstands gedacht. Es ist daher anzunehmen, dass er viele Fluchtpläne in der Tasche hat. Zuletzt hat ihm der afrikanische Staat Burkina Faso Exil angeboten.
Auch kursiert das Gerücht, Gaddafi halte sich in einem Bunker unter dem Rixos-Hotel auf. Dort hatten 35 ausländische Journalisten Quartier bezogen, die von Gaddafi-Soldaten zeitweise nicht auf die Straße gelassen wurden. Plausibel erscheint auch die Möglichkeit, dass sich Gaddafi in der Küstenstadt Sirte befindet. Die Bevölkerung in Gaddafis Heimatregion ist dem Tyrannen treu ergeben, große Teile seiner Armee wurden zuletzt dorthin verlegt. Rebellen-Kommandos bewegen sich zwar auf die Stadt zu, eingenommen ist sie noch nicht. Eine Rebellen-Delegation verhandelt mit Stammesführern, um eine unblutige Übergabe der Stadt zu erreichen.
Propaganda-Front
Der Sprecher der Gaddafi-treuen Regierung, Moussa Ibrahim, betätigt sich unterdessen an der Propaganda-Front. Er sprach im Radio von 6500 Freiwilligen, die von außerhalb kommend in Tripolis eingetroffen seien, um für Gaddafi zu kämpfen. Jeder, der sich melde, werde mit Waffen und Munition versorgt. Ob der Aufruf auf Resonanz stößt, ist unklar. Allein die Tatsache, dass sich die führenden Figuren des Regimes immer noch bemerkbar machen, kann der fliehende Gaddafi als Erfolg verbuchen. In der Nacht auf Dienstag etwa hatte sich Gaddafis Sohn Saif al-Islam vor dem Journalisten-Hotel Rixos von Anhängern feiern lassen, nachdem die Rebellen das Gerücht gestreut hatten, dass Saif gefangen genommen worden sei.
Mustafa Abdel Jalil, der Chef des Nationalen Übergangsrates, ist bemüht, die Euphorie der Rebellen zu dämpfen. Die Schlacht sei noch nicht beendet, das wäre erst dann der Fall, wenn Gaddafi und dessen Söhne gefangen wären.
Zudem musste Jalil die Rebellen in scharfem Ton zur Einigkeit aufrufen und seinen Rücktritt androhen: Verschiedene Rebellen-Fraktionen gerieten sich in die Haare, als es darum ging, wer zuerst den Flughafen von Tripolis und den Militärflughafen Mitiga einnehmen darf.