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"Ganz Gaza ist ein Gefängnis"

Von Eva Zitterbart/Tel Aviv

Politik

Gaza - Jüdische Siedler im autonomen palästinensischen Gazastreifen gefährden durch ihre Präsenz nicht nur sich selbst und ihre Kinder, sondern auch die Soldaten, die sie beschützen müssen und israelische Bürger im Stammland, die ihretwegen Ziele von Anschlägen werden. Der Anschlag auf einen Schulbus mit israelischen Siedlerkindern, der Montag in der Nähe der jüdischen Siedlung Kfar Darom zwei Todesopfer und neun zum Teil lebensgefährlich Verletzte forderte, machte das wieder einmal deutlich. "Wiener Zeitung"-Korrespondentin Eva Zitterbart besuchte kurz vor dem Anschlag die jüdischen Siedler im Gazastreifen.


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Es ist noch immer heiß um diese Jahreszeit im Südwesten des Landes. Gegen elf Uhr vormittag bin ich beim Stützpunkt Kissufim an der Demarkationslinie zwischen Israel und dem autonomen palästinensischen Gazastreifen. Eine offizielle Grenze gibt es nicht, weil auch die autonomen palästinensischen Gebiete innerhalb der staatlichen israelischen Außengrenze liegen. Vor dem Eingang zum Stützpunkt liegt ein Parkplatz für Privatfahrzeuge. Den Straßenrand säumen zahlreiche Militärfahrzeuge in verschiedenen Größen und Ausfertigungen - Jeeps, gepanzerte Fahrzeuge, Autobusse mit dichten schweren Gittern vor den Windschutzscheiben gegen Steinschlag. Ich erkundige mich nach den Möglichkeiten, in den Gazastreifen hineinfahren zu können. Mit einem israelischen Kennzeichen am Auto sei das de facto unmöglich, sagen mir die Posten. Kein israelisches Fahrzeug dürfe zudem allein in der autonomen Zone unterwegs sein.

Eine Kompanie schützt 20 Familien

Die Zone hinter Kissufim zum Meer zu ist durchsetzt von mehreren jüdischen Siedlungen, die größte darunter der sogenannte Katif Block (Gusch Katif). Darüber hinaus gibt es noch einige kleinere und vereinzelte Siedlungen. Die kleinste die Siedlung Morag, in der 20 Familien leben. Sie werden geschützt durch eine ganze Kompanie Soldaten, die in einem Stützpunkt nebenan in Stellung liegt. Alle paar Wochen wechselt die Besatzung dieses Stützpunktes.

Israelische Fahrzeuge, fast ausschließlich Autos von Bewohnern der Siedlungen und Transportfahrzeuge für den Personen- und Güterverkehr, fahren nur im Geleit von mindestens zwei Fahrzeugen. Man fährt sehr schnell in dieser Gegend, weil das die Sicherheit vor Attacken erhöht.

Ich steige mit einigen anderen Journalistenkollegen in einen voll gepanzerten Lkw der israelischen Armee. Sogar das Dach ist mit dicken Metallplatten verstärkt. Draußen die staubige Landstrasse, alle paar hundert Meter ein Sicherheitsposten: hinter mit Sandsäcken abgepolsterten Mauern aus Steinen ein Wachturm, gedeckt mit metallverstärkten Holzplatten, bemannt mit jeweils mehreren Soldaten in kugelsicheren Westen und Helm auf dem Kopf, die Waffe immer im Anschlag.

Wir halten nach knapp einem Kilometer an einer Kreuzung. Hier an der Kfar Darom Kreuzung, so erklärt man uns, sei vor kurzem der Selbstmordanschlag eines Fahrradfahrers erfolgt, der den palästinensischen Attentäter, aber niemanden sonst das Leben kostete. Genau an diesem Platz wurde vorgestern ein Schulbus von einer technisch hoch entwickelten Bombe attackiert. Zwei Menschen starben sofort, neun weitere Personen, die meisten davon Kinder, wurden verletzt.

Ausgebrannte Autowracks und Ruinen

Schon an der nächsten Kreuzung das nächste Schauobjekt: ein völlig ausgebranntes Autowrack, Überbleibsel eines anderen Anschlags. Straßenbomben, minenartige Explosionsgeräte seien die bevorzugten Waffen für Anschläge, die größeren Schaden anrichten sollen. Individuen, Soldaten oder Siedlungsbewohner, werden auch von einzelnen Gewehrschützen und vor allem natürlich von Steine schleudernden Jugendlichen angegriffen. Das Haus, das hier an der Straßenkreuzung der Zufahrtsstraße von Israel zu den Siedlungen im Katif Block mit der inneren Nord-Süd-Verbindungsstraße durch den Gazastreifen steht, ist nur mehr eine Ruine. Von seinem Dach aus, so erfahren wir, wurde oft geschossen. Die Dächer der arabischen Häuser sind meistens Flachdächer aus Beton, auf die später manchmal ein weiteres Stockwerk aufgesetzt wird. Sie eignen sich bestens als Position für einen Überfall.

Die Dächer der jüdischen Siedlungen dagegen sind häufig mit roten Dachziegeln gedeckt. Nette, saubere Einfamilienhäuser in Reihen, mit grünen jungen Gärten drum herum, sehen sie mitteleuropäischen Bungalowsiedlungen im Weichbild der Großstädte ähnlich.

Wir besuchen Neve Dekalim (Palmenhain), eine jüdische Siedlung, die direkt am Meer liegt. Die Häuser ducken sich in eine Sanddüne, die damit auch natürlicher Schutzwall gegen das Land zu ist. Am Rand der Siedlung treffen wir zwei Frauen, eine ältere mit der typischen Kopfbedeckung der religiösen Frauen, Sara, und eine in den Dreißigern mit einem Kleinkind vor der Brust, Batya. Die beiden Frauen erklären uns, dass dies eine religiöse Siedlung sei und dass auch sie aus religiösen Motiven, um das Land, das Gott dem jüdischen Volk seit Stammvater Abraham versprochen habe, zu besiedeln. Auf den Einwand, dass in der Zwischenzeit auch noch andere Völker sich hier niedergelassen hätten, erklärt Sara, dass diese Siedlung nicht neu sei. Sie sei stolze Großmutter von 26 Enkeln. Das bedeute, dass sie hier schon in der dritten Generation lebten. Die ersten Siedler seien schon in den 30er Jahren und früher in ihr Heimatland gekommen.

Mir fällt ihr lupenreiner amerikanischer Akzent im Englischen auf und ich frage, wann denn sie in ihr Heimatland gekommen sei? Sie fragt mich verwirrt: "In welches Heimatland meinst du nun?" Denn geboren ist sie in den USA und in den Nahen Osten kam sie erst als Großmutter, wie sie schließlich erklärt. Batya klagt über die Mühsal des Lebens in ständiger Bedrohung und unter fast allnächtlicher Beschießung der Siedlung aus der Gegen von Chan Yunis her, einer größeren palästinensischen Stadt, die man hinter den elektrisch gesicherten Zäunen der Siedlung deutlich und nahe sieht.

70 Prozent der Palästinenser sind derzeit arbeitslos

Sie begleitet uns in das Industrieviertel der Siedlung. Draußen zwischen den Werkstätten und Hallen bewegen sich fast ausschließlich Arbeiter von außen: Filipinos und Araber. Ich frage einen Araber, ob er hier lebe. "Nicht jetzt", sagt er, "aber eigentlich schon." Er wohnt außerhalb der Siedlung und kommt nur tagsüber zur Arbeit hierher. Damit gehört er schon fast zu den Privilegierten, weil er einen Job hat und verdient. Die meisten der Bewohner des Gazastreifens sind nicht in der glücklichen Lage. Rund 26 Prozent sind ohne Arbeit. In den letzten sechs Wochen seit Beginn der "Al-Aksa-Intifada" sind sie wohl mehr als 70 Prozent geworden, nachdem Israel den Gazastreifen komplett abgeriegelt hat, um das Eindringen von potentiellen Attentätern ins israelische Stammland zu verhindern.

Der Gazastreifen ist wirtschaftlich völlig von Israel abhängig. Täglich strömen in ruhigen Zeiten rund 35.000 Arbeiter nach Israel. Dazu kommt noch eine beträchtliche Anzahl illegaler Grenzgänger, die an israelischen Strassenkreuzungen auf Tagelöhnerjobs warten.

Seit Ausbruch der Unruhen sind auch die Grenzübergänge zu Ägypten bei Rafach und meistens der Flughafen geschlossen. Einen Seehafen hat Gaza noch nicht, nur einige kleine Fischerhäfen, die aber vom Meer her durch Israel kontrolliert werden. Gaza ist ein großes Gefängnis mit Inseln für die Gefängniswärter, die dort aber auch ständig hinter Gittern leben.

Steine werfende Kinder

Nirgendwo wird das so deutlich wie dort in der Industriezone von Neve Dekalim. Wir stehen in einer Straße zwischen Werkhallen und an ihrem Ende ist der Wall der Sanddüne, der die Begrenzung der Siedlung und ihren Schutz bedeutet. Oben auf der Sanddüne sind stahlarmierte Betonplatten in den Grund gerammt, wie man sie in Zeiten des Kalten Krieges zur Trennung zwischen West- und Ostberlin verwendete. Dahinter sammeln sich palästinensische Kinder, vor allem kleine Buben und Jugendliche. Sie schreien herunter zu uns, die wir da stehen, für sie nicht unterscheidbar, ob Siedler oder Außenstehende. Sie packen Steine, meist kleinere, weil größere gar nicht in ihre kleinen Hände passen, und schmeißen sie in unsere Richtung. Die Kinder schreien Flüche und Beschimpfungen zu uns herunter und unterstreichen sie mit obszönen Gesten. Einer zieht sich demonstrativ seine Hose runter. Plötzlich sind Schüsse zu hören. Sie kommen von außerhalb des Zaunes. Die Soldaten, die uns Journalisten begleiten, Siedlungsbewohner und die Journalisten springen in Deckung hinter die Gebäudeecken. Kurz darauf wird offensichtlich aus der Siedlung mit Feuer geantwortet. Die Kinder bewegen sich etwas aus der Schusslinie, geben aber ihr Steinewerfwerk nicht auf.

250.000 Siedler nehmen den Rest Israels als Geiseln

Ich habe in meiner Tasche eine israelische Tageszeitung mit einem Aufruf der noch immer , wenn auch schwächer werdenden Friedensbewegung: "Raus aus den Siedlungen" schreit die Überschrift. "250.000 Siedler nehmen fünfdreiviertel Millionen Israelis als Geiseln" für ihr Experiment. Die Siedler sind freilich nicht allein schuldig. Mehr als 30 Jahre lang förderten sozialdemokratische und später konservative Regierungen die politische Landnahme. Neueinwanderer, die nicht viel andere Möglichkeiten hatten, gingen in die finanziell stark unterstützten neuen Dörfer und Städte. Viele haben nicht nachgedacht darüber, dass sie zum Werkzeug einer bewusst vorangetriebenen Judaisierung der 1967 besetzten Gebiete wurden. Viele Siedler in den besetzten Gebieten sind Einwanderer aus den USA, die oft noch nach Jahren nur mühselig Hebräisch sprechen. Viele von ihnen haben nach einer lebhaften Jugendzeit in Amerika ihre religiösen Wurzeln entdeckt und sind zu einem Abenteuer besonderer Art nach Palästina gekommen.

In einer Runde mit der Kompanie, die Morag bewacht, frage ich die Soldaten, wie sie über ihre Rolle dächten. Sie müssen schließlich den Kopf hinhalten für die paar tausend Siedler in dieser exponierten Lage. Der Armeesprecher untersagt den Soldaten die Antwort und sagt mir: "Wir haben einen Auftrag hier. Wir sind keine Politiker. Wir haben den Auftrag, für die Israelis hier möglich zu machen, dass sie hier leben können wie andere in Tel Aviv." Etwas später kommt einer der Jungen zu mir und meint, dass er mir jetzt nicht antworten könne auf meine Frage. Er habe mich sehr wohl verstanden. Nächste Woche sei er nicht im Dienst und da würde er mir gern sagen, was er denke.