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In Essen dürfen sich Ausländer nicht als Neukunden bei der Tafel registrieren lassen. Die aufgekommene Rassismusdebatte lenkt von der wachsenden Armut in Deutschland ab.
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Essen/Wien. Essen war noch
nie etwas für Feinspitze. In der
Metropole des Ruhrpotts wurde einst im Bergwerk "malocht". Der Wandel von der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft gelang aber nicht. Knapp 13 Prozent der Bürger haben keinen Job, im gesamten Bundesland Nordrhein-Westfalen sind es lediglich 8 Prozent. Überdurchschnittlich viele Personen nehmen daher Sozialleistungen in Anspruch. 2016 lebten im Schnitt 46.000 Haushalte von Hartz IV, betroffen waren circa 90.000 Personen - von insgesamt 590.000 Einwohnern.
Über dem Schnitt liegt Essen auch in puncto Flüchtlingszahlen; rund 20.000 Personen sind es. Der ehemalige Bergarbeiter Jörg Sartor brachte das Thema unfreiwillig auf die Agenda. Als Vorsitzender der Hilfsorganisation Essener Tafel vertritt er nach außen, dass sich Ausländer neuerdings nicht als Neukunden registrieren können. Sie erhalten daher keine überschüssigen Lebensmittel - von der Wiener Tafel werden Bedürftige nicht wie in Essen direkt, sondern über Frauenhäuser, Obdachlosenbetreuungseinrichtungen und Flüchtlingsherbergen versorgt. Sartor begründete die Maßnahme gegenüber dem "Spiegel" mit einem "Nehmer-Gen" bei Syrern; aber auch bei Russlanddeutschen. Einige würden drängeln und alte Frauen wegschubsen. Es fehle die "Anstellkultur".
Von 35 auf 75 Prozent
Daraufhin wurde Sartor des Rassismus bezichtigt, Transporter der Tafel tragen seitdem die Schriftzüge "Nazis" und "Fuck Nazis". Die Tafeln in den - wesentlich wohlhabenderen - nordrhein-westfälischen Städten Düsseldorf und Köln lehnten das Vorgehen ihrer Essener Kollegen ab. Und auch der Bundesverband der deutschen Tafeln sparte nicht mit Kritik. Dabei ging es aber nicht um Sartors Wortwahl, sondern um das Prinzip der Tafeln: Bedürftigkeit und nicht Herkunft sei entscheidend, meinte der Verbandsvorsitzende Jörg Brühl.
60 Prozent der Tafelempfänger in Deutschland haben Migrationshintergrund, in Essen sind es sogar drei Viertel. Nun würden Migranten benachteiligt, aber "vielleicht haben wir zwei Jahre lang Deutsche benachteiligt, ohne es zu wissen", rechtfertigt sich Sator. Damals sei der Anteil an Personen mit Migrationshintergrund erst bei 35 Prozent gelegen.
Den Applaus der AfD für seine Maßnahme will Sartor jedoch nicht. Vor die Essener Tafel stellte sich auch die FDP: "Wenn Helfer bedrängt werden, dann sollte die Politik die Tafel nicht kritisieren, sondern Hilfe anbieten", sagte Parteichef Christian Lindner. Für den Chef der CSU-Abgeordneten im Bundestag, Alexander Dobrindt, zeigt die Diskussion, dass "die Integrationsfähigkeit schlicht eine Grenze hat". Und Kanzlerin Angela Merkel ließ ausrichten, für Bedürftigkeit sei nicht die Staatsangehörigkeit die Richtschnur. Gleichzeitig relativierte ihr Sprecher, indem er sagte, entschieden werde die Maßnahme von den Tafel-Verantwortlichen vor Ort.
Höchste Armutsgefahr in der EU
Von Merkels wahrscheinlichem Koalitionspartner SPD setzte es direkte Kritik: Eine Gruppe von Menschen pauschal auszuschließen, fördere Vorurteile und Ausgrenzung, sagte die geschäftsführende Sozialministerin Katarina Barley. Sie beschäftigte sich aber nicht mit der Frage, warum immer mehr Menschen in Deutschland auf Unterstützung durch die Tafeln angewiesen sind - nämlich mehr als eine Million. Und warum die Zahl der Tafeln deutschlandweit steigt und steigt - mehr als 900 sind es mittlerweile.
Die Agenda 2010 unter SPD-Kanzler Gerhard Schröder hat Deutschland international wieder wettbewerbsfähig gemacht. Doch mit Hartz IV, der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, ist die Armutsgefahr stark gestiegen. So erhält ein Alleineerziehender für den "Regelbedarf" an Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat und Energie monatlich 416 Euro. Für Unterkunft und Heizung werden weitere 349 Euro zugeschossen.
Fast 71 Prozent der arbeitslosen Deutschen sind armutsgefährdet, das ist Höchstwert in der EU. Der Unionsschnitt beträgt 49 Prozent, Österreich liegt bei 47 Prozent. Und auch von den erwerbstätigen Deutschen ist jeder Zehnte armutsgefährdet. Vielleicht fallen der SPD in der neuen Legislaturperiode Antworten darauf ein. Sie soll das Ressort Arbeit und Soziales stellen.