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Ganzjährig in der Minivilla leben

Von Nada Andjelic

Politik
50 Quadratmeter Baufläche pro Stockwerk , und 300 Quadratmeter große Grünflächen kosten drei Euro pro Quadratmeter und Jahr - das lockt viele Wiener an.
© Stanislav Jenis

Einst lebten nur österreichische Staatsbürger hier, das ist heute anders.


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Wien. Kleingarten ist wohl nicht die passende Bezeichnung für die Anwesen in Wien-Donaustadt. Angesichts ihrer Größe könnte man wohl eher von "Mini-Villen" sprechen. Im ÖBB-Kleingartenverein Kagran kommen manche Bewohner mit 50 Quadratmeter Baufläche pro Stock dank erstem Stock und Keller auf beachtliche Wohnflächen. Hinzu treten noch die durchschnittlich 300 Quadratmeter großen Grünflächen mit Büschen und Bäumen, die das Grundstück für einige zu einem erstrebenswerten Heim machen.

Wer will, kann hier ganzjährig wohnen. In der Novelle des Wiener Kleingartengesetzes hat der Wiener Landtag die ganzjährige Wohnmöglichkeit im Kleingarten beschlossen. "In ganz Europa sind die wenigen Wiener Kleingärten die einzigen, in denen das ganzjährige Wohnen in einer grünen Oase erlaubt ist", erzählt Adolf Wannemacher stolz, der seit 1984 Obmann des ÖBB-KGV Kagran ist. In den 340 Parzellen des Vereins werden rund 120 bereits ganzjährig bewohnt. Gerade einmal drei Euro pro Quadratmeter und Jahr kostet die Wohnalternative.

Mit einem freundlichen "Kako si" ("Wie geht’s?") begrüßt Wannemacher Velimir, der seit fast 20 Jahren mit seiner Frau in einem der Kleingärten lebt, in dem Verein mitarbeitet und von den anderen einfach "Willi" genannt wird. Velimirs Familie war die erste mit Migrationshintergrund, die sich 1995 ansiedelte. Mittlerweile wohnen etwa fünfzehn Familien mit Migrationshintergrund dort. Der ex-jugoslawische Pensionist kümmert sich um Parkplatz-, Müll- und Winterdienst-Angelegenheiten der Anlage. Er verschafft sich damit einen als sinnvoll erlebten Alltag.

In dem Kleingartenverein werden (ehemalige) Mitarbeiter der Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) bevorzugt, schließlich sind die ÖBB Eigentümer. Doch auch Nicht-ÖBBler werden hereingelassen und wohnen in der Anlage. Eine weitere Voraussetzung für das Ansuchen eines Kleingartens ist die österreichische Staatsbürgerschaft. Dennoch leben auch Ausländer hier, die mit österreichischen Staatsbürgern verheiratet sind. "Als ich mich 1991 bei der ÖBB bewarb, war die erste Frage, ob ich eine österreichische Staatsbürgerschaft habe", erzählt Velimirs Frau Dragica. "Das war früher normal." Ausländer wurden damals von der ÖBB nicht angestellt oder nur sehr schwer, erinnert sich die 60-Jährige.

Vor 20 Jahren wurden die Kleingärten noch vorwiegend von österreichischen Pensionisten der ÖBB genutzt, um sich am Wochenende zu erholen. Das Bild hat sich geändert, "immer mehr junge Paare ziehen in den Verein und gründen hier Familien", sagt Wannemacher. Nachbarschaftsfriede und Lebensqualität stünden im Zentrum des Vereinscredos. Ob jung oder alt, Ausländer oder Inländer, Architekt oder Pensionist: Wer sich sein Eigenheim in einer der Parzellen eingerichtet hat, wolle nie wieder in eine "kleine, muffige" Wohnung in der "stickigen" Stadt.

Neues Naturgefühl zur Zeit der Industrialisierung

Mitte des 19. Jahrhunderts kam in Folge der Industrialisierung eine neue Sehnsucht nach Natur auf. Der Trend leitete die Entstehung erster Kleingärten ein. 1864 wurde in Leipzig der erste Kleingartenverein Europas gegründet, basierend auf Grundideen des damals bereits verstorbenen deutschen Arztes und Hochschullehrers Moritz Schreber. Freizeitgärtner sollten die Möglichkeit bekommen, ihrem Hobby nachzugehen. Die Schaffung eines kindergerechten Raums mit besserer Lebensqualität zur Förderung der Gesundheit war die Hauptidee des ersten "Schrebervereins". 1869 umfasste die erste Schrebergartenanlage bereits 100 Gärten.

1903 griff der Wiener Julius Straußghitel, Mitglied des Naturheilvereins, den Schrebergartengedanken auf, freilich nicht aus gesundheitsreformerischen Absichten, sondern wegen der herrschenden Nahrungsmittelknappheit in Wien. 1918 gab es bereits 10.000 Kriegsgemüsegärten und 6000 Schrebergärten, die auch als Notwohnung genutzt wurden. In den 1960er und 70er Jahren verstärkte sich der Trend "Erholungsfaktor Kleingarten" durch den wirtschaftlichen Aufschwung, Obst- und Gemüseanbau wich Blumen und Ziersträuchern.

Im Landesverband der Kleingärtner Wiens, des Zentralverbandes der Kleingärtner und Siedler Österreichs, sind derzeit 26.831 Kleingärten angeführt, die in 247 Vereine und 13 Bezirksorganisationen aufgeteilt sind.