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Gas und Tränen

Von WZ-Korrespondent Wu Gang

Politik

Die Sorge vor einem "Mini-Tiananmen" wächst.


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Peking/Hongkong. "Ich hasse den Geruch von Tränengas am Morgen. Er riecht nach... Niederlage." Diese Abwandlung eines berühmten Filmzitats aus "Apocalypse Now" twitterte ein Student in den frühen Montagmorgenstunden aus Hongkong, dessen Straßen zu diesem Zeitpunkt tatsächlich an ein Schlachtfeld erinnerten: Weggeworfene Schirme, mit denen sich die Menschen gegen verschossene Tränengas-Granaten wehrten, lagen zertrampelt auf dem Boden, junge Leute wuschen sich gegenseitig den Pfefferspray aus den Augen, das Blaulicht der Einsatzkräfte flackerte noch durch die Häuserschluchten, während sich ein beißender Rauch allmählich über weite Teile des Stadtgebiets legte. Die ehemalige britische Kronkolonie hatte in jener Nacht die schwersten Ausschreitungen seit Jahren erlebt, nach offiziellen Angaben wurden 38 Personen verletzt und 78 festgenommen.

Begonnen hatte die heiße Phase der Proteste in der Nacht von Samstag auf Sonntag, nachdem in der Woche zuvor bereits Studenten ihre Vorlesungen boykottiert hatten und für das Recht auf freie Wahlen auf die Straßen gingen. Als schließlich mehrere Studentenführer festgenommen wurden, rief die vor einem Jahr gegründete Demokratiebewegung zur Besetzung des Finanzdistrikts auf. Die "Occupy Central"-Gruppe hatte ihre Aktionen bislang unabhängig von den Studenten organisiert und plante die Besetzung des "Central" genannten Finanzdistrikts mit einem "Bankett" für Mittwoch, dem chinesischen Nationalfeiertag. Doch dann ging alles sehr viel schneller: "Wir mussten einfach auf sehr leidenschaftliche Bürger reagieren", erklärte der Gründer der Bewegung, der Hongkonger Juraprofessor Benny Tai in einer dramatischen Rede: "Eine neue Ära des zivilen Ungehorsams hat begonnen." Als Reaktion auf die rasch anwachsenden Straßenblockaden mit zehntausenden Demonstranten setzte die Polizei Tränengas und Pfefferspray ein, gegen die sich die Protestierenden - so gut es eben ging - mit Regenschirmen schützten. Diese haben der Bewegung mittlerweile zu einem neuen Namen verholfen, denn angesichts der allgegenwärtigen Utensilien spricht man mittlerweile bereits von der "Regenschirm-Revolution".

Am Dienstag flaute die Gewalt zunächst ab, die Bereitschaftspolizei zog sich weitgehend zurück und über abgesperrten Straßenzügen wie der Chater Road herrschte eine angespannte Ruhe. Hongkongs Verwaltungschef Leung Chun-ying, dessen Rücktritt die Studenten verlangen sagte, seine Regierung hätte sich "angesichts der gesetzlosen Okkupation entschlossen" gezeigt. Er verteidigte das Vorgehen der Polizei.

Die staatsnahe "Global Times" ließ den Demonstranten indessen ausrichten, dass "die radikalen Aktivisten dem Untergang geweiht" seien, während ein schnell wieder gelöschter Artikel auf der chinesischen Version der Seite den Einsatz der bewaffneten Volkspolizei nahelegte: "Die Unterstützung der bewaffneten Kräfte könnte die Stabilität rasch wiederherstellen", hieß es darin.

Patt zwischen Hongkongund Peking

Befürchtungen, wonach die chinesische Armee der Polizei zur Hilfe kommen könnte, wies Verwaltungschef Leung zwar zurück, doch zu welchen Mitteln die Zentralregierung greifen wird, um die Proteste einzudämmen, ist derzeit nicht abzusehen. Die Pattsituation zwischen Hongkong und Peking über die Zukunft der Stadt ist gleichzeitig eine Konfrontation, die auf ein Versprechen aus dem Jahr 1997 zurückgeht. Nach 150 Jahren britischer Kolonialherrschaft wurde Hongkong damals unter dem Motto "Ein Land, zwei Systeme" wieder der chinesischen Autorität unterstellt, allerdings mit weitreichenden Autonomierechten wie Rede- und Versammlungsfreiheit, freie Presse, eine unabhängige Justiz und Selbstverwaltung bei Binnenangelegenheiten. Diese Freiheiten sind die Eckpfeiler im Selbstverständnis der Bürger von Hongkong, und dementsprechend groß ist ihre Furcht, diese zu verlieren. Denn eine der Übergabebestimmungen war es, im Jahr 2017 freie Wahlen durchzuführen, bei dem die Stadtbürger ihren Verwaltungschef direkt wählen dürfen. Im Verlauf dieses Jahres wurde deutlich, dass Peking dieses Versprechen nicht einlösen würde, was mit einem Entschluss des Nationalen Volkskongresses Ende August offiziell wurde: Demnach werden bei dem Urnengang nur Kandidaten zugelassen, die vorab von einem Peking-treuen Wahlgremium ausgewählt werden. Viele treibt nun die Furcht auf die Straße, dass sich die Zentralregierung nicht an ihre Zusagen hält und weitere Rechte aushöhlen könnte.

Immer mehr machen sich auch Sorgen über die Art und Weise, wie die Behörden mit den Protesten umgehen. Im Gegensatz zum Festland ist die Erinnerung an die Niederschlagung der Studentenproteste von 1989 in Hongkong sehr lebendig, nicht zuletzt aufgrund der jährlichen Gedenkmesse im Juli. Viele Dissidenten konnten sich damals in den sicheren Hafen der Sonderverwaltungszone retten. Während viele junge Menschen in China aufgrund der rigiden Zensur noch nie etwas von den Vorfällen gehört haben, sieht man es in Hongkong als Verpflichtung an, gegen das Vergessen anzukämpfen. Dementsprechend groß ist die Furcht, dass sich ein derartiges Blutvergießen wiederholen könnte, und der martialische Auftritt der Bereitschaftspolizei am Wochenende wirkte auf viele wie ein abgeschwächtes Echo der Gewalt von 1989. Etliche chinesische Politiker hatten schon zuvor mehr oder weniger subtil darauf hingewiesen, dass die Volksbefreiungsarmee etwaige Unruhen theoretisch jederzeit auflösen könnte. Und in einem Interview mit der "South China Morning Post" legte die ehemalige Staatssekretärin für Sicherheit Regina Ip Lau Suk-yee nun nach: "Ich denke, die Regierung von Hongkong sorgt sich, was passiert, wenn das hier zu einer Art Mini-Tiananmen wird."

Beunruhigung in Taiwanüber die Entwicklung

Die Vorgänge und Entwicklungen in Hongkong werden daher auch in Taiwan sehr genau beobachtet. Seit dem Ende des Bürgerkrieges in China 1949 ist die Insel ein Konfliktherd in Asien. Chinas Staatspräsident Xi Jinping hatte am Freitag erstmals offiziell eine Lösung nach dem Hongkong-Modell "Ein Land, zwei Systeme" für den ungeklärten Status der beiden Länder vorgeschlagen. Doch während Peking die Zukunft der Insel in der Wiedervereinigung sieht, beeilte man sich in Taiwan angesichts der Unruhen in Hongkong, derartigen Wünschen eine rasche Abfuhr zu erteilen: 70 Prozent der Taiwanesen würden die Ideen der Kommunistischen Partei Chinas für ihre demokratische Insel als "unpassend" ablehnen, ließ das Büro für Festland-Angelegenheiten ausrichten, während Präsident Ma Ying-jeou einen "weisen Umgang" mit den Studentenprotesten einmahnte. Postwendend verbat sich Chinas Außenministerium jegliche Einmischung in interne Angelegenheiten.