Zum Hauptinhalt springen

Gauck-Behörde in Sackgasse?

Von Franz Nickel

Politik

Berlin - Wenn am 3. Oktober zum zehnten Mal die offiziellen Vereinigungsfeiern über die Bühnen gehen werden, endet die Amtszeit des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Joachim Gauck. Der ehemalige Pfarrer aus Rostock hat bisher für seine Tätigkeit viel Lob eingeheimst. Doch nun mischt sich in die Lobeshymnen heftige Kritik, die ausgerechnet vom letzten Innenminister der DDR, Peter Michael Diestel (CDU), kommt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 24 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Joachim Gauck weist in seiner Bilanz über seine zehnjährige Tätigkeit gerne auf zahlen hin:

1,4 Millionen Bürgeranträge auf Akteneinsicht wurden erledigt.

4,3 Millionen Anträge auf Akteneinsicht von öffentlichen Dienststellen, Medien, Strafverfolgungsbehörden und Wissenschaftlern wurden bearbeitet.

Aus 165 von insgesamt 15.587 Säcken mit zerrissenen Akten wurden fast 400.000 Einzelblätter rekonstruiert, aus denen über 200 "vorvernichtete" IM-Akten wiederhergestellt werden konnten.

Täglich stellen noch 400 Bürger Anträge auf Akteneinsicht. Daraus schließt Gauck, dass seine "weltweit einmalige Behörde", die mit ihren 3.000 Mitarbeitern jährlich 200 Millionen DM kostet, noch 20 bis 30 Jahre weiterarbeiten müsste.

An Lob für Gauck haben die verflossenen CDU-Regierenden nicht fehlen lassen, und von den Rot-Grünen darf sich der wendige Pfarrer einen pompösen Abschied erwarten. Es könnte aber sein, dass kurz vor dem Ausstieg noch etwas schief geht. Denn Rechtsanwalt Peter-Michael Diestel (CDU), letzter Innenminister der DDR nach der Wende, hat eine neuerliche Stasi-Debatte in den deutschen Medien losgetreten. Er stellt fest, dass die "Stasi-Verfolgungs- und Berufsverbotspraxis in eine Sackgasse geraten sind". Die Stasihysterie sei ausgelöst worden, "um Ostdeutsche von den ihnen angestammten Plätzen zu entfernen". Sie habe "zur Paralysierung der ostdeutschen Intelligenz", zur "Infragestellung ganzer Generationen" und "zur Delegitimation ostdeutscher Führungsansprüche" geführt. Man habe "die IMs aufs Schaffott geführt, um mit dem Osten abrechnen" zu können.

Die "Behörde zur Ausgrenzung von Menschen" habe wesentlich dazu beigetragen, dass "der öffentliche Dienst in den neuen Bundesländern in einem unvorstellbaren Maße gesäubert worden" ist. "Dabei ist massenhaft Unrecht geschehen. Das Stasi-Syndrom forderte inzwischen mehr Todesopfer als die Mauer".

Diestel möchte "dass der Dichter Jürgen Borchert, der sich erst jüngst, 10 Jahre nach der Wende "wegen Stasi-Vorwürfen in tiefer Verzweiflung das Leben nahm, das letzte Opfer infolge Bescheids der Gauck-Behörde" ist. Die Behörde und ihr gegenwärtiger Chef seien "zehn Jahre nach der Wende zu Anachronismen geworden". Gauck selbst habe eng mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammen gearbeitet und dessen Dank erfahren. Seine Akte habe er ohne Beisein anderer rechtswidrig selbst bereinigt

Diestel strebt einen offiziellen Rechtsstreit mit Gauck an, mit dem Ziel, ihn aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen. Geschehenes Unrecht im Osten müsse "rehabilitiert", die Gauck-Behörde sofort zugemacht werden.

Gauck hat bisher rechtliche Schritte abgelehnt, weil Diestel "nicht satisfaktionsfähig" sei. Er versicherte aber eidesstattlich, nie mit der Stasi zusammengearbeitet zu haben. Ein Prozess, wie Diestel ihn will, könnte die verbleibenden Monate bis zum 10. Einheitstag spannend machen.