In Afghanistan lebten einst mehr als 200.000 Hindus und Sikhs. Heute führen die letzten tausend ein Leben im Verborgenen.
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Kabul. "Das ist mein Messer. Ich trage es überall mit mir rum. Und wenn jemand kommt, um mich oder meine Religion in Frage zu stellen, dann werde ich es benutzen." Balber Singh Granthee ist 70 Jahre alt. Er beugt sich langsam nach vorne und flüstert, doch seine Worte wiegen schwer im Ohr. "Ich bin ein guter Sikh, ich bin ein guter Mensch und ich bin ein stolzer Afghane. Und das werde ich bis zu meinem Tod verteidigen." Seit 21 Jahren kümmert sich Balber Singh um den Daramsal - so nennen die Sikhs ihren Tempel. Jeden Morgen versammelt sich hier die Gemeinde, um gemeinsam den Tag zu beginnen. Balber Singh sieht zu, dass alles seine Ordnung hat. Liebevoll legt er ein seidenes Tuch über den Altar, um die Heilige Schrift zu beschützen. "Hindus und Sikhs haben gemeinsame Wurzeln, aber unsere Religionen sind sehr unterschiedlich", erzählt er. Zum Beispiel hat der Sikhismus kein Kastensystem. "Nur in Afghanistan haben sich die Gemeinden zusammengetan." Weil sie die gleiche Diskriminierung erfahren, wollen sie gemeinsam für ihre Interessen kämpfen. Die Hindus haben ihren Tempel am anderen Ende der Stadt. Versteckt hinter hohen Mauern, leben, wirtschaften und beten sie, denn ein in die Öffentlichkeit integriertes Leben ist gefährlich.
"Ich selber werde Afghanistan niemals verlassen", sagt Balber Singh entschlossen. Dabei hätte er allen Grund dazu: Schon allein den Tempel zu verlassen, birgt Risiken. Der Tempel wurde bereits mehrfach niedergebrannt. Es gibt wohl kaum jemanden in der Gemeinde, deren Freunde und Verwandte nicht dem Hass zum Opfer gefallen sind. Balber Singh Grantee hat die turbulente Geschichte des Landes hautnah miterlebt. Vor allem aber hat er sie überlebt: den Schah, die Kommunisten, die Invasion der Sowjets und ihr Krieg gegen die Mudschahidin. Während der Herrschaft der Taliban von 1996 bis 2001 mussten Hindus und Sikhs gelbe Markierungen auf ihren Kleidern tragen. "Die haben das von den Nazis abgeschaut."
Als Sklaven gekommen
Dabei ist die Geschichte der Hindus und Sikhs in Afghanistan älter als die des modernen Nationalstaats. Ibn Battuta, der als der arabische Christoph Columbus bezeichnet wird, bereiste im 14. Jahrhundert die Ausläufer des Himalajas. Dort notierte er den unter den Einheimischen etablierten Namen "Hindu Kush" ("Hindu-Mörder"), so genannt wegen der unzähligen Hindu-Sklaven, die im Zuge der islamischen Eroberung der Region über die eisigen Bergpässe transportiert wurden. So kamen auch die ersten Hindus in das Land: als Sklaven. Später waren viele der Gemeindemitglieder wegen ihrer sprachlichen und kulturellen Verbindungen nach Indien im Import und Export tätig. Die meisten Sikhs kamen erst im 19. Jahrhundert. Viele waren Soldaten im Dienste der britischen Krone, welche ihre Kolonien in der Region auszuweiten versuchte.
Heute sind nur noch circa 1000 Hindus und Sikhs geblieben. Die meisten sind nach Indien oder in die USA geflohen.
"Es gab schon immer Hass"
Bei vielen Gebliebenen aber ist die Frage der Zugehörigkeit ein entscheidender Faktor gegen eine Ausreise. Balber Singh sieht sich als Afghane. Das Oberhaupt der Sikhs, Awtar Singh, auch. Sie beide haben in der Armee Dienst geleistet und kennen das Ausland kaum. In seinem Büro hinter dem Gebetssaal des Daramsals erzählt Awtar Singh seine Sorgen vor der Zukunft. "Ich selbst habe zwei Brüder verloren. Die Leute tun so, als wäre der Konflikt zwischen Religionsgemeinschaften etwas Neues. Aber es gab schon immer Hass." Trotzdem behauptet Awtar Singh, dass die Lage der Hindus und Sikhs so schlecht sei wie noch nie. "Weil viele fliehen, werden wir zu einer noch kleineren Minderheit. Das heißt, dass wir in einem korrupten und umkämpften Land eine noch geringere Bedeutung haben. So interessieren sich weniger Menschen für unser Wohl und es kümmert sich keiner um den Schutz, den wir so bitter nötig haben."
Es ist ein Teufelskreis. Denn es ist leicht, einer so kleinen Minderheit die Legitimation der nationalen Zugehörigkeit abzusprechen. Nach der von den USA angeführten Militärintervention ab 2001, als Hamid Karzai Präsident wurde, ging es den Gemeinden besser. Karzai hatte durchgesetzt, dass Minderheiten in Afghanistan eine feste Vertretung im Parlament bekamen, um die Interessen aller Ethnien und Religionen der pluralistischen Gesellschaft abzubilden.
Mit der Armut und Korruption aber kehrten schnell die Spannungen zwischen den verschiedenen Gesellschaftsteilen zurück. Vor allem die Sikhs waren ein leichtes Ziel, waren und sind sie bereits optisch im öffentlichen Leben auffällig. Schließlich tragen die Frauen kein verhüllendes Kopftuch, hingegen die Männer einen Turban. "Ich behaupte, dass es mir unter den Taliban besser ging als heute. Damals herrschte Ordnung. Wir haben Schutzgeld bezahlt, und damit war es gut", sagt Awtar Singh. "Als ich einmal während der Taliban von einem Mitbürger bedroht wurde, schritt ein junger Talib ein. Er hielt meinem potenziellen Peiniger ein Gewehr an den Kopf und sagte: ,Lass ihn in Ruhe, er ist Afghane, so wie Du!‘"
In der Nähe der iranischen Botschaft in Kabul findet man eine Straße, einen Steinwurf vom Tempel der Hindus entfernt, wo noch eine Handvoll Geschäfte von den Anhängern der Gemeinden betrieben werden. Hier ein paar Krämerläden, da eine Apotheke und auf der anderen Seite ein Fotogeschäft. Seit 30 Jahren betreibt Jaktar Sing hier sein Geschäft. Er verkauft hauptsächlich Importwaren aus Indien, wo seine Familie seit 1993 lebt. Eines Morgens, im Juni vergangenen Jahres, tauchte ein Mann vor seinem Laden auf. Er hielt ihm ein Messer an den Hals und brüllte: "Konvertiere hier auf der Stelle zum Islam, oder ich schneide Dir die die Kehle durch!" Die anderen Händler auf der Straße griffen ein und der Täter konnte im Tumult der Menge fliehen. "Aber so ist es hier als Sikh", sagt Sing "Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es dich irgendwann erwischt."
Keine politische Lobby
Im Hindutempel die Straße runter erzählt man ähnliche Geschichten. Der unwissende Passant würde wohl kaum vermuten, dass hinter kahlen, weißen Mauern die letzten Übriggebliebenen einer afghanischen Minderheit leben. Etwa 20 Familien verbringen fast ihr gesamtes Leben hinter den Mauern. Sie betreiben einen kleinen Obstgarten, beten im eigenen Tempel und unterrichten hier ihre Kinder. "Unsere Kinder können nicht in eine öffentliche Schule gehen", berichten Gemeindemitglieder. "Sie werden als Ungläubige so sehr gehänselt, dass wir um ihr Leben Angst haben." "Diskriminierung erfährt man überall. Im Krankenhaus, in Regierungsgebäuden, im Bus. Deshalb verlassen die meisten von uns nie diese Anlage."
Afghanistan hat viele Ethnien, darunter die Hazaren oder Tadschiken. Viele von ihnen werden ebenfalls systematisch benachteiligt. Doch sie sind Muslime. Sie besitzen auch alle ein traditionelles Herkunftsgebiet, also einen Ort, an dem sie in Afghanistan die Mehrheit bilden und wo sie eine Lobby haben, die ihre Interessen in Politik und Gesellschaft vertritt. Hindus und Sikhs haben das nicht und sind deswegen gezwungen, den Schutz in der Isolation zu suchen.
Abgeschottet aufwachsen
Die Kinder und Jugendlichen dieser Minderheiten wachsen in völliger Abschottung von ihrer Außenwelt auf. Sie verbringen jeden Tag innerhalb der Gemeinde, immer unter den wachsamen Augen ihrer Eltern. Morgens kommen sie zum Gebet, dann gehen sie zusammen in die Schule im Tempel. Der einzige Kontakt, den sie mit afghanischen Kindern haben, passiert dazwischen beim gelegentlichen Spielen auf der Straße. "Der Daramsal ist in einer relativ sicheren Gegend, hier wohnt ein tadschikischer Warlord, der dafür sorgt, dass in seinem Viertel nichts passiert. Deshalb dürfen wir auch draußen spielen. Die Älteren von uns waren noch auf öffentlichen Schulen. Aber für unsere Generation war es schon zu gefährlich."
Es ist 10 Uhr, Zeit für den Unterrichtsbeginn. Alle Kinder werden im gleichen Klassenzimmer unterrichtet; lernen den gleichen Stoff. Die Jüngsten sind sechs, die ältesten 16 Jahre alt. Die Lehrerin ist Muslima und Hazarin, also selbst Teil einer ethnischen Minderheit. Trotzdem sind die Unterschiede zwischen den Bevölkerungsteilen spürbar. Die Kinder drängen auf die alten Holzbänke. Die Lehrerin betritt den Raum und schreibt an die Tafel. Erst links oben das Datum, und dann in die Mitte: "Im Namen Allahs."