Die Kirchen der Auvergne bestechen mit ihren harmonischen Proportionen und ihre lebhafte Bildsprache.
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Man muss nicht religiös sein, um dem Zauber einer romanischen Kirche zu erliegen. Es ist die Mischung aus Schlichtheit, Kraft und detailgetreuer Erzählkunst der Skulpturen, die den Charme dieser Bauwerke ausmacht. In Frankreich trifft man vor allem in der Auvergne allenthalben auf kleinere oder größere Wunderwerke dieser Epoche: Mehr als 250 romanische Kirchen finden sich hier versammelt.
Fünf davon werden immer als die bedeutendsten genannt: Notre-Dame-du-Port in Clermont-Ferrand, St. Austremoine in Issoire, Notre-Dame d’Orcival sowie St. Nectaire und St. Saturnin; wer aber mit offenen Augen durch das Land fährt, wird auch in den kleinsten Dörfern Juwelen der sakralen romanischen Baukunst finden, deren Reiz zuweilen weniger in der Größe, sondern in anderen Details liegt.
Die Besonderheit der Romanik der Auvergne liegt in der Harmonie der Proportionen. Deren augenfälligster Ausdruck ist die "auvergnatische Pyramide": Die Abstufung des Ostteils der Kirche vom Glockenturm abwärts über den Chor bis hinunter zu den Absidialkapellen.
Kunstvolle Kapitelle
Das wohl ausgewogenste Beispiel dieses architektonischen Wohlklanges bietet tatsächlich eine der "berühmten Fünf", nämlich die Basilika Notre-Dame-du-Port. Über die Dauer der Bauarbeiten an dieser Kirche existieren keine gesicherten Daten; Experten gehen aufgrund der harmonischen Geschlossenheit von einer relativ kurzen Bauzeit aus, deren Beginn in der Mitte des zwölften Jahrhunderts und deren Ende etwa im Jahr 1180 liegen dürfte.
"Zuerst hat man den Chor errichtet, um möglichst bald Messen lesen zu können", erklärt Vincent und weist mich auf die klassische "Pyramide" hin. Er ist Fremdenführer des Tourismusbüros von Clermont-Ferrand und hat eine Stunde Zeit für mich. Wir wenden uns zunächst einem Kapitell der südlichen Außenwand zu. Es zeigt Abraham, der auf Geheiß Gottes seinen Sohn Isaak opfern soll. "Es fällt auf, dass Isaak größer ist als sein Vater", sagt Vincent. "Der Grund ist: Isaak wird mit Jesus gleichgesetzt, Abraham mit Gott Vater." Zu der Inschrift "Abraham und Isaak" bemerkt er: "Die Basilika enthält viele Schriftzeichen, was jedoch eher als Schmuck gedacht war."
Das verwundert nicht, waren doch zur Zeit der Romanik die meisten Menschen Analphabeten. Ihnen sollten all die Figuren, Tiere und Fabelwesen auf den Kapitellen sowohl Inhalte der Bibel vermitteln, als auch eine Anleitung liefern für ein christliches Leben, das nach dem Tod auf Erden ins Paradies führen möge; daneben war es Aufgabe der Bilder, Antworten auf essentielle Fragen betreffend etwa die Vergänglichkeit des Augenblicks oder den Sinn des Lebens zu geben.
Im Inneren der Kirche bleibt mein Begleiter als erstes bei einem Kapitell in der Vorhalle stehen, das einen Bücherstapel zeigt. Aus der Symbolsprache übersetzt, heißt dies: Hier, am westlichen Ende, sind die Bücher noch geschlossen, es werden noch keine Geschichten erzählt. "Diese sehen wir dann auf den Kapitellen im Schiff. Und die Chorkapitelle erzählen noch einiges mehr", macht Vincent mich neugierig. Mit dieser Abfolge sollte das Kirchenvolk darauf eingestimmt werden, dass der Mensch auf seinem Weg vom Eingang bis zum Chor zunehmend an Erkenntnis gewinnt.
"Schlau wie ein Affe"
Am Ende des Hauptschiffs findet sich auf einem Kapitell ein Mann, der einen Affen an der Leine hält. "Das sieht man oft in der Auvergne", weiß Vincent und zitiert die französische Redewendung "Malin comme un singe". Auf Deutsch: Schlau wie ein Affe; malin bedeutet allerdings auch gerissen, boshaft oder unheilvoll - und das darin enthaltene mal steht für das Böse, den Schaden oder die Krankheit. Das Kapitell zeigt eines der vielen Gegensatzpaare, mit denen die romanische Bildsprache arbeitet: Mensch und Tier, Gut und Böse.
Wir schreiten weiter zu den Chorkapitellen. Deren Skulpturen zählen zu den prächtigsten der Auvergne überhaupt. Das erste figural gestaltete Kapitell im Uhrzeigersinn illustriert Kämpfe, die Menschen in ihrem Inneren mit sich selbst austragen: Freigebigkeit gegen Geiz, der Sieg über den Zorn oder der Streit der Tugend mit dem Laster. Ein paar Schritte weiter greift Eva nach dem verhängnisvollen Apfel, den ihr die Schlange anbietet, worauf die Vertreibung aus dem Paradies folgt. Vincent weist mich speziell auf ein Bild hin: "Hier tritt Adam Eva so stark, dass sie auf die Knie sinkt, und ein Engel zieht Adam am Bart." Ersteres soll die Dominanz des Mannes über die Frau darstellen, das andere die Bestrafung Adams für seine Sünde. Das letzte Kapitell des Chors zeigt Gott mit einem geöffneten Buch, was Vincent übersetzt mit: "Hier ist man am Ziel angelangt."
Großräumige Chorumgänge waren nicht nur für die eigene Kirchengemeinde gedacht, sondern auch dafür, etwaige Pilgerströme durch die Kirche zu schleusen, wie dies etwa in Conques der Fall war und ist. Der kleine Ort, der sich knapp außerhalb der heutigen Region Auvergne befindet, liegt an einer der vier Hauptrouten, die von Frankreich aus nach Santiago de Compostela führen und wird heute noch von Menschen aufgesucht, die sich auf den Jakobsweg gemacht haben. 150.000 Besucher und 30.000 Pilger zählt man hier pro Jahr. "Unser Ort selbst hat neunzig Einwohner", beschreibt Anne die Relation.
Die Kirche Sainte Foy ist nach der heiligen Fides benannt. Sie starb im Jahr 303 zwölfjährig als Märtyrerin und ihre sterblichen Überreste ruhten lange Zeit in Agen; im neunten Jahrhundert brach ein Mönch des damals bereits in Conques existierenden Benediktinerklosters nach Agen auf, entwendete die Gebeine der Heiligen und brachte sie nach Conques. Die heutige Kirche wurde im elften Jahrhundert zu bauen begonnen und weist, ebenso wie Notre-Dame-du-Port, an der Ostseite die typische auvergnatische Pyramide auf. Die Mauern erscheinen von außen fast bunt: Hier wechseln graue und hellbraune Steine mit rosafarbenen und nahezu weißen ab.
Der Reliquienraub
Anne, meine Fremdenführerin in Conques, will zunächst die Geschichte vom Reliquienraub - eine damals durchaus übliche Praxis - zurechtrücken und sagt, dass der "Transport" hierher möglicherweise auch deshalb unternommen wurde, um die Knochen zu schützen. Wie auch immer: Reliquien waren damals immens wichtig, da sie die Bedeutung eines Ortes steigerten. Dies wurde nicht nur mit einem höheren Pilgerzustrom honoriert: "Das Kloster wurde durch Stiftungen seitens der jeweiligen Machthaber unterstützt", erklärt Anne.
Sie zeigt mir zuerst das prachtvolle Tympanon über dem Eingangsportal: Das jüngste Gericht mit einer teilweise blau gefärbten Christusfigur in der Mitte, den ordentlich aufgereihten "Guten" zu seiner Rechten und dem recht unordentlichen höllischen Treiben zu seiner Linken; hier werden die "Bösen" in den Schlund eines Ungeheuers gestoßen, andere Sünder von tierähnlichen Teufelchen auf diverse Arten traktiert. "Sehen Sie den Mann auf allen Vieren?", fragt Anne mich. "Er hat Stimmen gekauft, um Bischof von Clermont zu werden und wird dafür bestraft."
Insgesamt 250 Kapitelle besitzt Sainte Foy. Auch hier finden sich die Gegensatzpaare der Romanik: Ein Wesen, halb Mensch, halb Löwe, symbolisiert die wertvollen und die schlechten Anteile des Charakters; auf einem anderen Kapitell sieht man Kreuzritter, neben ihnen Dämonen mit weit aufgerissenen Mäulern; auch dies soll den Kampf des Guten gegen das Böse versinnbildlichen.
An einigen Säulen sind Kratzspuren zu erkennen. "Die Kirchen waren im Mittelalter bunt ausgemalt," erklärt Anne. Ab dem sechzehnten Jahrhundert wurden die Farben jedoch sukzessive entfernt. Den früheren Zustand wieder herzustellen, wäre wohl sehr aufwändig - wenn man überhaupt die ehemalige Farbgebung ergründen könnte. Saint Austremoine in Issoire wurde im neunzehnten Jahrhundert innen in allen erdenklichen Tönen ausgemalt; das Ergebnis ist ein Farbspektakel, das dem Betrachter zunächst die Sprache verschlägt.
Aber auch in Sainte Foy geht es im rechten Seitenschiff recht bunt zu: Anne zeigt mir ein Fresko aus dem 15. Jahrhundert, das die Geschichte der heiligen Fides erzählt. Für den Kirchenschatz, der etwa 20 kleinere und größere Reliquienschreine birgt, bleibt uns nicht mehr allzu viel Zeit. Der prächtigste, völlig vergoldet und mit Edelsteinen verziert, stellt die auf einem Thron sitzende Namenspatronin der Kirche dar. "Die Figur wurde während der Religionskriege in einer Mauer der Kirche versteckt und erst im neunzehnten Jahrhundert anlässlich einer Renovierung zufällig gefunden", erzählt Anne. Sie weist mich auf das "Buch der Wunder" hin, in dem im elften Jahrhundert alle Wunderheilungen, die in Conques bis dahin passiert waren, sowie die Geschichte des Baus der Kirche eingetragen sind.
Frei hängende Glocken
Für die Rückfahrt habe ich mir eine kleine Kirche aufgehoben, die mir das Tourismusbüro von St. Flour, wo ich wohne, ans Herz gelegt hat: Saint-Gal in Roffiac, ein paar Kilometer weiter. Eine ehemalige Schlosskapelle aus dem zwölften Jahrhundert, die nur ein Schiff besitzt und auch sonst mit Wunderwerken wie Sainte Foy oder Notre-Dame-du-Port nicht mithalten kann. Aber sie verfügt über eine Besonderheit, die ihren eigentlichen Reiz ausmacht - einen "Clocher à peigne". Das müsste man wohl mit "kammförmiger Glockenturm" übersetzen: An dem quer zum Schiff stehenden Aufsatz können vier frei hängende Glocken befestigt werden, zwei sind es derzeit.
So ist das in dieser Gegend: Man fährt auf einer wenig frequentierten Straße - und plötzlich steht eine romanische Kirche da. Wer derlei Überraschungen mag, ist in der Auvergne richtig.
Hans-Paul Nosko, geboren 1957, hat Rechts- und Staatswissenschaften studiert und lebt als Journalist und Glossist in Wien.