Zum Hauptinhalt springen

"Geberländer haben Korruption geduldet"

Von Michael Schmölzer

Politik
Kabul, am 24. November 2020: Es schneit. Die Hälfte der Menschen lebt an der Armutsgrenze, viele sind auf gespendete Nahrungsmittel angewiesen.
© reuters/Ismail

In Genf wird über Milliarden-Euro-Hilfe für Afghanistan verhandelt. Doch ohne Frieden versickert das Geld.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 3 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Die Lage im Land ist fatal, Grund zur Hoffnung gibt es kaum, die Europäische Union hilft: Afghanistan bekommt in den nächsten vier Jahren wieder 1,2 Milliarden Euro aus Brüssel, das hat die zuständige EU-Kommissarin Jutta Urpilainen am Dienstag bei der Geberkonferenz in Genf zugesichert. Das kriegs- und krisengeschüttelte Land am Hindukusch hofft auf großzügige Finanzzusagen weltweit, allerdings sind die Budgets der Industrienationen wegen des Kampfes gegen die Corona-Pandemie unter Druck. Diplomaten rechnen damit, dass die Hilfe deshalb spärlicher fließen wird. 2016 waren bei der Geberkonferenz in Brüssel für vier Jahre gut 15 Milliarden Dollar zusammengekommen.

Was Afghanistan am dringendsten bräuchte, wäre jedoch Friede. Das betonte auch UN-Generalsekretär Antonio Guterres zum Auftakt der Konferenz. Doch ein Waffenstillstand ist nicht in Sicht. Seit September finden zwar Gespräche statt, die radikalislamischen Taliban haben trotzdem nicht aufgehört, gegen die vom Westen gestützte Regierung in Kabul zu kämpfen. Und es sind nicht die Taliban alleine, die den Frieden torpedieren. Am Wochenende hat die Terrororganisation IS einen Granathagel auf Kabul niedergehen lassen und zahlreiche Menschen getötet.

Nahrungsmittel-Hilfe für elf Millionen Menschen

Das Unheil für die afghanische Zivilbevölkerung hat bereits vor Jahrzehnten begonnen, an ein Leben ohne Krieg können sich nur noch die Alten dunkel erinnern. Elf Millionen Menschen, das ist mehr als ein Viertel der Bevölkerung, braucht Nahrungsmittelhilfe, gut die Hälfte der Menschen lebt an der Armutsgrenze.

Die Dürrekatastrophen der Jahre 2018 und 2019 haben das Land zusätzlich schwer gebeutelt. Es ging im Frühjahr langsam aufwärts - dann kam die Corona-Pandemie. Angehörige im Ausland verloren ihre Arbeit und konnten kein Geld mehr schicken, Tagelöhner in den Städten fanden keine Jobs mehr, die Nahrungsmittelpreise explodierten, weil die Grenzen geschlossen wurden und Nachschub fehlte.

Große Teile des Landes werden jetzt wieder von den Taliban kontrolliert, die Armee ist schwach, korrupt und auf militärische Unterstützung der Nato, vor allem aber der USA, angewiesen.

Ein Deal mit den USA verpflichtete die Taliban Ende Februar zur Aufnahme von innerafghanischen Friedensgesprächen. Der Auftakt Mitte September weckte neue Hoffnung auf ein Ende des Konflikts, doch rasch machte sich Ernüchterung breit. Die Verhandlungen könnten sich noch lange hinziehen, sagt der renommierte Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network gegenüber der Nachrichtenagentur afp. "Man muss auch damit rechnen, dass sie wegen Differenzen gelegentlich unterbrochen werden und während dieser Zeit weiter gekämpft wird."

Afghanistans Regierung will in Genf darlegen, wie sie die Wirtschaft ankurbeln will. Das größte Problem ist die grassierende Korruption. In der Tat landet ein großer Teil auch der ausländischen Hilfsgelder in den Taschen von Provinzfürsten und hohen Beamten. Am Sonntag ernannte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani eine neue Kommission, die die Korruption bekämpfen soll. Es ist eines von vielen derartigen Gremien. Experten bezeichnen diese Bemühungen als "zahnlos".

Resultat ist, dass sich international Enttäuschung breitmacht und die Spendenbereitschaft weiter sinkt. Wobei Ruttig die Schuld nicht nur bei den Afghanen, sondern auch beim Westen sieht. "Die Geberländer haben Korruption zu großen Teilen sogar geduldet, weil sie der Ansicht waren, dass bestimmte Verbündete nur gekauft werden können." Die Lage ist entmutigend, die Zukunft Afghanistans ungewiss. In Washington ist man unter der Hand zur Einsicht gekommen, dass ein Abzug der rund 4.500 US-Soldaten und Soldatinnen der einzige gangbare Weg ist - auch wenn dann das komplette Chaos ausbricht. Knapp vor dem Ende seiner Amtszeit hat US-Präsident Donald Trump die Reduktion der Truppenpräsenz auf 2.000 angeordnet - und massive Kritik in den USA und bei den Nato-Verbündeten geerntet.

Die Nato ist zum Ausharren verdammt

Denn bei einem überstürzten Abzug, so das Argument der US-Demokraten, würden auch die bescheidenen, mühsam erkämpften Erfolge des Einsatzes in Afghanistan hinfällig. Die Verbündeten der USA - Deutschland ist mit rund 1.000 Soldaten an der Operation"Resolute Support" beteiligt - fühlen sich von den USA alleingelassen und bezweifeln, dass der Einsatz ohne das US-Kontingent aufrecht erhalten werden kann. Zudem wird betont, dass man in Folge der Terroranschläge des 11. September allein aus Gründen der Solidarität mit den USA nach Afghanistan gegangen sei.

Immerhin gibt es Zweifel, ob eine Truppenreduktion in so kurzer Zeit machbar ist. Trump ist nur noch bis zum 20. Jänner im Amt, dann betritt sein Nachfolger, der Demokrat Joe Biden die Bühne. Der würde den Abzug unter Umständen wieder rückgängig machen - das Manöver hätte außer erheblichen Kosten nichts gebracht.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat angekündigt, dass im Februar über die Zukunft des Einsatzes mit 11.000 bis 12.000 Soldaten entschieden werde. Es gehe um Bleiben oder Gehen. Eine Vorentscheidung ist aber gefallen: "Wir dürfen nicht riskieren, dass Afghanistan wieder eine Plattform für internationale Terroristen wird, die Angriffe auf unsere Heimatländer organisieren", so Stoltenberg. Das Drama am Hindukusch wird mit westlicher Beteiligung aller Voraussicht nach weitergehen.