Eine Bestandsaufnahme am Internationalen Tag der Gebärdensprachen.
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Ich erinnere mich noch gut, als ich 2009 erstmals im Sitzungssaal des Nationalrats ans Rednerpult trat: Alle Augen waren auf mich gerichtet, niemand tippte in sein Handy oder steckte den Kopf zum Sitznachbarn, als ich mich den Volksvertretern in Österreichischer Gebärdensprache als erste gehörlose Behindertensprecherin vorstellte. Ihre Blicke wanderten zwischen mir und der Dolmetscherin hin und her, ungläubig, dass eine vollinhaltliche Kommunikation so möglich sein sollte.
Sie ist möglich. Gebärdensprachen sind vollwertige Sprachen mit Grammatik, Vokabeln, Syntax - man kann alles mit ihnen ausdrücken: Kochrezepte, Sportnachrichten, Witze, große Gefühle . . . und politische Debatten. Mit der Funktion als Nationalratsabgeordnete ging für mich ein großer Berufswunsch in Erfüllung, denn ich wollte von klein auf eine inklusiven Gesellschaft mitgestalten.
Was mir gewährt wurde, bleibt den meisten Gehörlosen versagt: die freie Berufswahl. Die taube junge Frau will Hebamme werden? Die Ausbildungsstelle lehnt sie ab. Der Friseurlehrling ist ausgelernt, aber eine Stelle am ersten Arbeitsmarkt findet er nicht. In der Gehörlosen-Community sind auch kein Florist und keine Zahntechnikerin. Warum eigentlich nicht? Das Problem hat viele Ursachen, gegen die es ganz unterschiedliche Strategien braucht. Es beginnt mit der Einschulung und endet - eigentlich nie.
Gehörlose Kinder, die nur in Deutsch beschult werden und keine Wissensvermittlung in Österreichischer Gebärdensprache - ihrer Muttersprache ÖGS - erhalten, schließen die Pflichtschule mit deutlich geringeren Kompetenzen ab als ihre hörenden Mitschüler. Die Einführung eines ÖGS-Lehrplans soll diesem Missstand ab dem Schuljahr 2023/24 entgegenwirken.
Recht auf freie Jobwahl
Für jene, die gern lernen, ist damit auch der Weg zur Matura geebnet. Die anderen stehen an: Was kann ich werden? Und will ich das auch? Handwerksberufe in lauten Werkstätten, Routinetätigkeiten im stillen Kämmerlein kommen nach Ansicht von Lehrherren am ehesten in Frage. Gehörlose und schwerhörige Jugendliche haben das bereits soweit internalisiert, dass sie über Alternativen oft gar nicht nachdenken. Die Burschen werden Tischler, die Mädchen Büglerin in einer Putzerei - wenn’s gut läuft, am ersten Arbeitsmarkt, der ordentliche Löhne und Sozialversicherung bezahlt; allzu oft am zweiten Arbeitsmarkt, in geschützten Werkstätten, die ein Taschengeld zahlen, von dem niemand leben kann. Kids mit Behinderungen entziehen sich deshalb gern der Ausbildungspflicht bis 18 Jahre, "weil’s eh nix bringt."
Dabei haben Menschen mit Behinderungen laut Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention, die Österreich 2008 ratifiziert hat und seither mit Nationalen Aktionsplänen umzusetzen versucht (der gute Wille hat sich leider noch nicht in nachhaltigen Maßnahmen manifestiert), "das Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die in einem offenen, inklusiven (...) Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommen wird".
Wie so oft regelt der Markt das Problem nicht. Es braucht den politischen Willen, Verordnungen und Unterstützungsangebote der öffentlichen Hand, damit Ausbildungsstätten Lehrlinge und Berufsanwärter mit Gehörlosigkeit einstellen. Staat und Sozialpartner sind gefordert: Informationskampagnen in den Schulen, Sensibilisierung von Unternehmern, Beratung und Begleitung von Arbeitgebern als Anreiz zusätzlich zum finanziellen Zuckerl, Bereitstellung von Dolmetschern, Arbeitsassistenz und digitalen Instrumenten zur Erleichterung der Kommunikation in der Ausbildung und im Job, bis Inklusion am Arbeitsplatz stattfindet.
Illusorisch? Nein. Die Zahl gehörloser und schwerhöriger Jugendlicher ist klein - auch wenn keiner so recht weiß, wie klein. Es gibt in Österreich keine validen Daten; Gehörlose werden als "behindert" mitgezählt, ohne Ausweisung der Art der Behinderung. Eine ordentliche Analyse der Datenlage steht ganz oben auf der Liste des Nationalen Aktionsplans Behinderung 2022 bis 2030, um die Maßnahmen angemessen dimensionieren zu können.
Zum Ersten geht es um die Wahrung von Rechten, zum Zweiten um den Respekt gegenüber Wünschen und Zielen, und zum Dritten ist es volkswirtschaftlich sinnvoll, dass Personen, die fähig und willens sind zu arbeiten, nicht am Sozialtropf hängen. Die Ausbildung zu jedwedem Beruf muss - mit Nachdruck - gewährt und unterstützt werden. Hinweise wie "Als taube Hebamme kriegst du nie einen Job" sind absolut verzichtbar. Was wir gar nicht brauchen, ist, dass man uns sagt, was wir alles nicht können.