Jeder dritte Selbständige in Wien stammt nicht aus Österreich.
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Wien. Es gibt die österreichische Ökonomie. Und es gibt die "migrantische Ökonomie". Jede folgt ihren eigenen Regeln. In der einen gibt es die Lehrerin, die in der Schule arbeitet. In der anderen die Lehrerin, die nach Büroschluss die Böden putzt.
Eine aktuelle Studie der L&R Sozialforschung hat sich im Auftrag der Arbeiterkammer der migrantischen Ökonomie angenommen. Im Fokus: Migrantische Unternehmen und ihre Beschäftigen in Wien. Das Fazit: Jeder dritte Selbständige in Wien stammt nicht aus Österreich. Er hat mindestens einen Matura-Abschluss. Er verdient im Durchschnitt 1000 Euro netto im Monat. Er bedient Mehrheits-, wie Minderheitsgesellschaft. Sofern er Mitarbeiter hat - bei zwei Drittel der Unternehmer handelt es sich nämlich um Einpersonenunternehmen -, beschäftigt er nicht nur die eigenen Landsleute, sondern auch Österreicher und Personen aus anderen Ländern.
Selbständig aus Angst
Von den insgesamt 76.322 Selbständigen haben 22.309 (29 Prozent) einen Migrationshintergrund. Untersucht wurden in der Studie 255 Unternehmen. Die befragten Einwanderer stammen aus der Türkei (11 Prozent), dem ehemaligen Jugoslawien (16 Prozent) und den Staaten der EU-Osterweiterung (44 Prozent). "Ein Deutscher, der hier ein Buchgeschäft betreibt, hat uns nicht interessiert", erklärte Thomas Ritt, Leiter der Abteilung für Kommunalpolitik der Arbeiterkammer, die Auswahl.
Im Vergleich zu den Österreichern (7 Prozent) sind Migranten häufiger selbständig (11 Prozent). Auch der Anteil der Unternehmerinnen ist bei Migranten um mit 40 Prozent um 10 Prozent höher als bei Österreicherinnen.
Die Gründe, selbständig zu werden, sind bei Migranten vielfältig: Der Wunsch nach Eigenständigkeit, Selbstverwirklichung und Autonomie zählt zu den häufigsten Motiven für die Unternehmensgründung. Dass viele Migranten aufgrund mangelnder Alternativen am Arbeitsmarkt zu einer Selbständigkeit gezwungen werden, konnten die Studienautoren bei den Einzelinterviews nicht bestätigen. Hingegen geben sie zu bedenken, dass vor allem Unternehmer mit türkischem Migrationshintergrund neben dem Wunsch zur Selbstverwirklichung auch die Vermeidung von Arbeitslosigkeit als Gründungsmotiv angaben.
"Die erhöhte Betroffenheit des Motivs der Vermeidung von Arbeitslosigkeit verweist auf eine höhere Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit", erklären die Autoren und weisen auf eine Studie aus dem Jahr 2011, die aufzeigt, dass 43 Prozent der Migranten in einem Zeitraum von 10 Jahren zumindest einmal von Arbeitslosigkeit betroffen waren, während es bei Arbeitnehmern ohne Migrationshintergrund lediglich 12 Prozent waren. Ein weiteres Ergebnis der Studie: Das formale Bildungsniveau der Befragten ist hoch. Jeder dritte Befragte hat die Matura, und 36 Prozent haben gar einen Hochschulabschluss. Nichtsdestotrotz ist das Netto-Einkommen gering. 46 Prozent gaben an 1000 Euro im Monat zu verdienen, weitere 26 Prozent höchstens 1500 Euro. "Ein Großteil der Abschlüsse wird anerkannt, aber die Akzeptanz am Arbeitsmarkt ist eine andere", kritisiert Ritt.
Tatsächlich ist die Zahl der Anerkennung ausländischer Titel in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Zwischen 2010 und 2013 wurden insgesamt knapp 13.000 Ansuchen auf Titel-Anerkennung bei der Serviceeinrichtung "Enic Naric" im Wissenschaftsministerium eingereicht. Der Großteil der Antragsteller kommt aus osteuropäischen Ländern. An erster Stelle liegt dabei Ungarn, gefolgt von Russland und Rumänien. 80 Prozent aller Anträge werden im Sinne des Antragstellers erledigt, weitere 15 Prozent mit "Modifikationen". Die Änderungen betreffen dabei etwa Ansuchen auf Nostrifizierung eines Master-Titels, die dann aber "nur" als Bachelor anerkannt werden. Knapp fünf Prozent der Anträge werden abgewiesen: Gründe dafür sind etwa nicht anerkannte Hochschulen, ungültige Diplome sowie fehlende Unterlagen.
Ein Garant für Arbeit ist eine gelungene Nostrifizierung nicht. Deswegen plädieren die Vertreter der Arbeiterkammer für mehr Offenheit bei den Betrieben und dafür, dass die Anerkennung mitgebrachter Qualifikationen und Fertigkeiten erleichtert wird.
Branchenfremd beschäftigt
Die Branchen, in denen selbständigen Migranten tätig sind, variieren nach Herkunftsland. Während die Österreicher vor allem in freiberuflichen und technischen Dienstleistungsberufen arbeiten, dominieren bei den neuen EU-Staaten die Branchen Handel und Bau, bei Migranten aus der Türkei belegt der Handel sogar Platz eins, gefolgt von der Sparte Verkehr.
Zuwanderer aus dem ehemaligen Jugoslawien (ausgenommen Slowenien) arbeiten dagegen am ehesten ebenfalls in freiberuflichen und technischen Dienstleistungsberufen, gefolgt vom Handel. Ob die selbständigen Migranten gemäß ihrer Qualifikation beschäftigt sind, konnte in der aktuellen Studie quantitativ nicht erhoben werden. Nur in Einzelgesprächen wurde die Problematik des taxifahrenden Politikwissenschafters oder der putzenden Lehrerin angesprochen.
Eine Umfrage des Integrationsfonds nahm sich Anfang Juni dieser Thematik an. Da gab ein Viertel, der im Ausland geborenen Beschäftigten (28 Prozent) an, nicht entsprechend ihrer Berufsausbildung in Österreich beschäftigt zu sein. Zum Vergleich: Bei Österreichern liegt dieser Wert nur bei 10 Prozent.