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SPD-Mitglieder entscheiden ab heute über den Koalitionsvertrag mit der Union.
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Berlin. Dass es um viel geht, zeigt sich auch an einem Vorfall, der unter normalen Umständen wohl nur die Polizei und einige Parteimitarbeiter beschäftigt hätte und nicht die SPD-Spitzenfunktionäre. Am Dienstag hatte sich ein Unbekannter Zugang zum Telefonsystem des Willy-Brandt-Hauses verschafft und anschließend mehreren Mitgliedern der SPD-Basis mit ernsthaften Konsequenzen für ihre Karriere gedroht, falls sie bei der Abstimmung über den mühsam ausgehandelten deutschen Koalitionsvertrag mit "Nein" votieren. Da der Mann, der sich als Mitarbeiter von Generalsekretärin Andrea Nahles ausgab, es so aussehen ließ, als rufe er mit der zentralen Nummer des SPD-Parteivorstandes an, gingen viele Betroffene - vor allem Mitglieder der Jungsozialisten, die sich zuvor kritisch geäußert hatten - von der Echtheit des Anrufes aus. Nahles zeigte sich nach Bekanntwerden des Vorfalls empört und bestürzt.
Um offenzulegen, wie angespannt die Nervenkostüme innerhalb der SPD-Spitze sind, hätte es die Drohanrufe allerdings nicht gebraucht. Denn wenn die knapp 475.000 Parteimitglieder, die in den vergangenen Tagen mit einer Sonderausgabe der SPD-Zeitung "Vorwärts" den Koalitionsvertrag und die Stimmzettel erhalten haben, ab dem heutigen Freitag über eine Regierungszusammenarbeit mit der Union entscheiden, entscheiden sie implizit auch über die Zukunft der eigenen Parteiführung. "Jeder, der bei Verstand ist, muss wissen, was es heißt, wenn ein Vorsitzender in einer so entscheidenden Frage aufläuft", sagt Parteichef Sigmar Gabriel durchaus freimütig.
Konsequenzen hätte eine Ablehnung des Koalitionsvertrags aber wohl nicht nur für die SPD-Führungsriege, sondern auch für die Partei insgesamt. Da sich die Union wohl kaum auf eine Minderheitsregierung einlassen würde, bleiben als Optionen nur noch Neuwahlen oder eine schwarz-grüne Koalition, für die derzeit schon Hessen als Versuchslabor dient. In beiden Fällen stünde die SPD aber als Verlierer da.
Die Basis ist skeptisch
Angesichts des nicht unerheblichen politischen Risikos scheut die SPD-Führung derzeit kaum Kosten und Mühen, um für die Zustimmung zum 185 Seiten starken Koalitionsvertrag zu werben. Auf insgesamt mehr als 30 Regionalkonferenzen in den verschiedenen Bundesländern bemühen sich Gabriel und seine Mitstreiter, die Basis zu überzeugen.
Doch bei den Parteimitgliedern, die bis nächsten Donnerstag ihre Stimmzettel per Post einsenden müssen, ist die Skepsis noch immer groß. Vielen Sozialdemokraten ist die erste große Koalition unter Angela Merkel in der Legislaturperiode 2005 bis 2009 noch in schlechter Erinnerung. Nach den vier Jahren stürzte die SPD auf ihr bisher schlechtestes Bundestagswahl-Ergebnis ab. Und im Wahlkampf 2013 hatten sich beide Lager heftig bekämpft.
Gabriel argumentiert hingegen, dass die SPD in den Verhandlungen einiges erreicht habe und der Vertrag eine "sozialdemokratische Handschrift" trage. Der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde, den die Sozialdemokraten zur Voraussetzung für eine Koalition machten, wird ab 2015 eingeführt, Arbeitnehmer mit 45 Versicherungsjahren können schon mit 63 in Pension gehen, und alle in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kinder von Einwanderern haben einen Anspruch auf die doppelte Staatsbürgerschaft.
Als taktischer Fehler könnte sich aus SPD-Sicht jedoch noch die Entscheidung entpuppen, die Ministerliste erst nach der Bekanntmachung des Abstimmungsergebnisses am 14. Dezember festlegen zu wollen. Parteiintern gibt es viele Stimmen, die Sigmar Gabriel in der Rolle des Finanzministers sehen wollen, ein entsprechendes Entgegenkommen der Union hätte es wohl vielen skeptischen SPD-Mitgliedern leichter gemacht, dem Koalitionsvertrag zuzustimmen. Denn gerade an der Basis geht noch die Befürchtung um, dass der derzeitige CDU-Finanzminister Wolfgang Schäuble bei einer Verlängerung wichtige SPD-Projekte über Umwege blockieren könnte.
Wie das Votum ausgehen wird, lässt sich derzeit jedenfalls schwer beurteilen. Zwar haben zwei Meinungsforschungsinstitute in den vergangenen Tagen Umfragen veröffentlicht, laut denen sich 70 bis 78 Prozent der SPD-Wähler für eine große Koalition aussprechen. Doch längst nicht alle SPD-Wähler sind auch Partei-Mitglieder und die Genossen stehen im Ruf, deutlich kritischer zu sein als die Rot-Wähler ohne Parteibuch.
Umstritten ist die Abstimmung allerdings nicht nur in der SPD, wenngleich es anderswo weniger um ein Ja oder ein Nein als um die Frage der Verfassungsmäßigkeit geht. Denn damit das Votum gültig ist, müssen sich mindestens 20 Prozent der SPD-Mitglieder beteiligen. Im Extremfall könnten damit knapp 90.000 Menschen über das Zustandekommen der großen Koalition entscheiden. Staatsrechtler wie Christoph Degenhart sehen durch das Mitgliedervotum die Entscheidung der Wähler bei der Bundestagswahl entwertet. Als quasi "bessere Wähler" könnten die SPD-Mitglieder ein zweites Mal abstimmen. Problematisch ist es laut Degenhart zudem, dass auch Parteimitglieder abstimmen dürfen, die aufgrund ihres Alters oder einer anderen Staatsbürgerschaft für die Bundestagswahl gar nicht wahlberechtigt waren.