Im Vorfeld des Irak-Krieges lähmte sich Europa durch seine Zerrissenheit selbst. Von einer gemeinsamen EU-Außenpolitik konnte keine Rede sein. Die Politologin Henriette Riegler vom Österreichischen Institut für internationale Politik (OIIP) erinnert an die Gefahren des "Nicht-Handelns" und spricht von einem gravierenden "Geburtsschaden für die neue EU" durch die Instrumentalisierung europäischer Rhetorik für die nationalen Interessen einzelner Staaten.
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OIIP-Vorsitzender Otmar Höll verweist auf das Interventionsmodell des amerikanischen Politologen Robert Kagan, um Verständnis für das ängstliche Europa zu vermitteln. Militärisch starke Staaten handeln, während militärisch Schwache verhandeln (müssen), heißt es da. Und er zweifelt den bewaffneten Kampf als Problemlösung an. "Demokratie durch Krieg", so Höll "ist ein schönes Märchen, das leider nicht der Realität entspricht".
Das glaubt Riegler nicht. Eine Gewaltintervention, selbst ohne Rückendeckung des UNO-Sicherheitsrates, könne sehr wohl zu einer neuen Ordnung und sogar zu Demokratie führen. Das Eingreifen im ehemaligen Jugoslawiens hätte das gezeigt. Der Krieg war rasch gewonnen und die Ziele
der amerikanischen Vorangriffsrhethorik seien erreicht worden. Die neue Ordnung manifestierte sich in der Gründung neuer Staaten wie Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien. Die Konfliktherde innerhalb Restjugoslawiens wurden unter UN-Aufsicht gestellt, die nachträglich eine humanitäre Mission verabschiedete. Die Flüchtlinge konnten in ihre Heimat zurückkehren und der Sturz des nicht sehr demokratisch herrschenden Slobodan Milosevic wurde angebahnt.
Europa müsse sich vor Augen halten, dass auch ein "Nicht-Handeln" ein Handeln ist, sagt Riegler. Die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts hätten das deutlich vor Augen geführt, als Europa Hitlers Eskapaden zusah, bis es zu spät war.
Einen Grund für die Unfähigkeit Europas, geeint zu handeln, sieht Riegler in der Ignoranz gegenüber der Existenz nationaler Interessen. Während einige EU-Länder versuchen, ihre außenpolitischen Ziele unter dem Deckmantel der Europapolitik zu transportieren, mangelt es anderen überhaupt am Bewusstsein eigener nationaler Interessen. So strebte etwa Hauptkriegsgegner Frankreich danach, seine auf wirtschaftliche Interessen gestützte Außenpolitik als die der EU zu verkaufen. Ein willfähriger Helfer im Irak-Konflikt waren die Deutschen unter Kanzler Schröder, denen ein außenpolitisches Konzept zur Zeit völlig fehle. Die deutsche "Haltung" entspringe weniger nationalstaatlichen Überlegungen, so Riegler, als innenpolitischem Kalkül.
"Wer mitmacht, darf Bedingungen stellen, wer nicht mitmacht, nicht", charakterisiert die Politologin die Vorteile einer aktiven Außenpolitik. So hätte Deutschland etwa den Nicht-Einmarsch der Türkei in den kurdischen Nordirak im Falle seiner Beteiligung zu seiner Bedingung machen können. Die Haltung Österreichs sieht Riegler noch einen Schritt weiter - nämlich überhaupt keine Artikulation eines nationalen Interesses.
Riegler ortet als Folge der politischen Vorgeschichte des Irak-Krieges eine schwere Krise für die Zukunft der EU. Die Mitgliedsländer seien dazu aufgerufen, sich ihrer nationaler Interessen bewusst zu werden, um diese als Verhandlungsbasis in die EU-Gremien einbringen zu können. Nur so könne ein gemeinsamer europäischer Standpunkt entstehen. Sonst bestehe die Gefahr, dass selbsternannte "global player" der EU ihre Interessen der ganzen Union überstülpen und somit das Erscheinungsbild Europas nach außen in ein schiefes Licht rücken.
Ein schönes Beispiel dafür war die Reaktion Chiracs auf die US-Loyalitätserklärung der neuen Beitrittsländer im Osten. Er verwarnte die neuen Partnerstaaten scharf und erklärte sinngemäß Frankreichs Standpunkt zum einzig gültigen. Riegler hält die Chirac-Aktion für eine Katastrophe: "Das ist ein schwer überbrückbarer Geburtsschaden für die neue erweiterte EU".