Das noch vor einer Woche völlig Undenkbare wird plötzlich immer denkbarer: dass Muammar Gaddafi am Ende den eigenen überfälligen Untergang überlebt, Libyen oder wenigsten einen Teil des Landes wieder unter Kontrolle bringt und der Clan des Despoten mehr oder weniger weiterregiert, als wäre nichts geschehen.
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Ein nicht mehr ganz absurdes Gedankenexperiment, aus dem sich eine aufschlussreiche Frage ergibt: Gelänge es den Gaddafis, wieder Business as usual zu betreiben, betriebe dann Österreich, die EU, der Westen ebenfalls früher oder später wieder Business as usual mit Tripolis? Würde man wieder die eingefrorenen Konten des Clans auftauen, libysches Öl nach Schwechat verladen, Gaddafi junior in seinen Wiener Stammlokalen herzlich begrüßen und vielleicht zur Sicherheit eine Militärmusikkapelle gen Tripolis schicken, auf ein "Schwamm drüber"-Ständchen?
Eigentlich spräche die Logik für eine derartige Vorgangsweise, schließlich war Gaddafi vor der Revolution ja genauso ein Killer - vom Lockerbie-Anschlag bis zu seinen Folterkellern - wie heute, was aber bekanntlich der Freundschaft keinen Abbruch tat. Warum sollte das in Zukunft anders sein? Machen ein paar hundert oder auch tausend zusätzliche Tote in seiner Mord-Bilanz einen qualitativen Unterschied? Oder ist der Unterschied zwischen dem etwas exzentrischen, aber letztlich doch akzeptierten libyschen Führer und dem Despoten, dem nichts zu wünschen bleibt als eine treffsichere Cruise-Missile, letztlich doch nur die ihm zur Verfügung stehende militärische Macht?
Das kleine Gedankenexperiment macht sichtbar, dass Österreich und der ganze Westen aus der arabischen Revolution bis dato nichts gelernt haben. Die - gewiss schwierige - Frage nach der Grenze zwischen moralischer ("Wir sind auf der Seite der Unterdrückten") und rein interessengeleiteter ("Geschäft ist Geschäft") Außenpolitik ist genauso unbeantwortet wie vor dem Fall der nahöstlichen Dunkelmänner.
Das ist etwas unklug und unredlich. Entschieden wir uns für die interessengeleitete Variante, sollten wir den nach wie vor Unterdrückten von Saudi-Arabien bis Kasachstan ehrlich kommunizieren, dass wir bloß an sogenannter Stabilität und nicht an Wandel interessiert sind und ihre Demokratiebewegung nichts, aber auch gar nichts von uns zu erwarten haben. Das wäre zwar unsympathisch, aber wenigstens ehrlich.
Entschieden wir uns hingegen für eine "moralische" Außenpolitik, und sei es gegen kurzfristige nationale Interessen, wäre ein klares Bekenntnis zu den jeweiligen Demokratiebewegungen die logische Folge, verbunden mit einem Konfrontationskurs gegenüber den Despoten. Das könnte ökonomisch kurzfristig kostspielig sein, aber dafür moralisch stimmig. Das Beispiel Saudi-Arabiens zeigt freilich das Risiko: Dort einen moralisch gerechtfertigten Aufstand zu unterstützen, heißt in der Praxis, einen Benzinpreis von 3 Euro pro Liter zu riskieren.
Einziger positiver Aspekt eines hypothetischen Gaddafi-Comebacks wäre, dass der Westen ausnahmsweise Farbe bekennen müsste, wofür er sich entscheidet.