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Gefährliche Illusion

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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Die EU durchläuft in Österreich, die mehr oder weniger flammenden Reden zum 1. Mai haben es gerade wieder gezeigt, einen ambivalenten Rollenwechsel - und das noch dazu im Blitztempo. Es ist noch nicht allzu lange her, da brandmarkten die meisten Parteien mit wenigen Ausnahmen Brüssel als einen Hort der abgehobenen, aber gut bezahlten Technokraten, die sich Tag und Nacht die Hirne zermarterten, wie sie denn den Bürgern mit immer neuen Regelungen das Leben schwer machen könnten.

Heute erklären die meisten Parteien mit ebenso wenigen Ausnahmen die Union zum Retter für alle Probleme und Lebenslagen. Mit Frieden und Sicherheit ist es längst nicht mehr getan; wer heute als Politiker auf sich hält, fordert von Brüssel nichts weniger die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, ewigen Wirtschaftswachstums und steigenden Wohlstands für alle - und am besten sofort. Und all dies selbstredend ohne jede Diskriminierung und unter Wahrung des Umweltschutzes.

Das Problem ist: Wir verurteilen damit die EU zum Scheitern. Das Versprechen eines Paradieses auf Erden hat noch kein politisches Gebilde einzulösen vermocht (und die, die es versucht haben, sind grandios gescheitert).

War das erste Bild von Europa eine verzerrte Karikatur, geboren aus der Gering- und Unterschätzung des Neuen, entspricht das jetzige einer trügerischen Illusion. Die nationale Politik forcierte die Karikatur aus einem Gefühl der Stärke und selbstverliebten Überlegenheit; die Illusion dagegen entspringt der Erkenntnis der Staatskanzleien von der eigenen, wachsenden Impotenz im Angesicht der Globalisierung. Jetzt soll es eben dieses "Europa" richten.

Indem die sogenannten pro-europäischen Parteien die Union mit der Befriedigung ihrer ideologischen politischen Sehnsüchte überfrachten, tun sie dem politischen Projekt nichts Gutes.

Es ist ein gravierendes Missverständnis zu glauben, mittels parlamentarischer Demokratie lasse sich irgendeine Form normativer Gerechtigkeit herstellen. Tatsächlich ist sie lediglich ein Verfahren, um heterogene Interessen friedlich und auf dem Verhandlungsweg auszugleichen.

Im besten Fall wird es dereinst in Brüssel so zugehen wie früher in Wien. Es wird gestritten und manchmal so und dann wieder anders regiert.

Mehr ist nicht möglich. Gut so.