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Gefährliche Illusionen

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
© Luiza Puiu

Mit der 27-fachen Improvisation bei Energiekosten werden die EU-Staaten im Herbst mit ihrem Latein am Ende sein. Und dann?


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Mit jedem Tag, an dem der Herbst näher rückt - und eine Entspannung an der Energiepreisfront immer weiter weg -, steigen die Ratlosigkeit und die Verzweiflung der Regierenden in allen europäischen Ländern. Die riesigen Summen aus öffentlichen Budgets, mit denen versucht wird, die Folgen für Menschen wie Wirtschaft abzufedern, werden früher als später versiegen. Und was dann folgen könnte, vermag niemand zu beantworten.

Eher unwahrscheinlich ist, dass die Regierenden es politisch überleben könnten, die massiv gestiegenen Kosten und Preise einfach auf die Menschen und Unternehmen abzuwälzen. Das war vielleicht vor mehr als 30 Jahren in den Transformationsökonomien Mittel- und Osteuropas möglich, aber sicher nicht in der heutigen EU. Die europäische Gegenwart ist von solcher Leidensfähigkeit weit entfernt.

Schmerzlos wird die aktuelle Transformation aber nicht zu bewältigen sein. Und schon gar nicht gibt es auch nur die geringste Aussicht auf ein "Zurück zur guten alten Zeit", egal, was die EU auch tut. Mit solchen Illusionen kann nur locken, wer nicht damit rechnet, in absehbarer Zeit den Wahrheitsbeweis für seine Forderungen antreten zu müssen.

Im Grunde genommen setzen die EU-Staaten nach wie vor darauf, mit einer Vielzahl an improvisierten Maßnahmen über die kritischen Herbst- und Wintermonate zu kommen: Überbrückungshilfen und Kostenkompensationen, Förderungen für schnelle Umstellungen auf alternative Energieträger, neue Lieferquellen für das bisher aus Russland stammende Öl und Gas und einiges andere mehr. An den großen Rädern des europäischen Energiemarkts und dessen Preisfindungsmechanismen hat bisher keiner zu drehen gewagt.

Dafür gibt es gute Gründe, zumal ja auch die gestiegenen Preise trotz aller Nachteile einen unerlässlichen Lenkungseffekt hervorbringen. Diesen bei einem so omnipräsenten Gut wie Energie aufzugeben, hätte gravierende nachteilige Folgen quer durch alle Volkswirtschaften. Umgekehrt droht ein Flächenbrand, wenn die Kosten für Energie nicht nachhaltig eingedämmt werden können.

Nach 181 Tagen der 27-fachen Improvisation in Sachen Energiekosten werden die EU-Staaten im Herbst mit ihrem Latein an ein Ende kommen. Welche Antworten Europa dann zu geben imstande ist, wird entscheidend auch die politische Durchhaltefähigkeit der EU bei den Sanktionen gegen Russland bestimmen. Der Primat der Politik verlangt nach einem entsprechenden ökonomischen Fundament. Auch darüber sollte sich besser niemand irgendwelchen Illusionen hingeben.