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Nach einem Amoklauf, wie zuletzt in Kalifornien, will man Erklärungen. Will verstehen, warum ein 22-Jähriger wahllos Menschen erschießt. Meistens müssen als "Schuldige" die Massenmedien herhalten. Waren früher Egoshooter-Spiele beliebte Erklärungsmodelle, geht nun eine Kolumnistin der "Washington Post" in eine neue Argumentationsrichtung. Sie analysierte ein Video, das der Schütze vor seiner Mordfahrt aufgenommen hatte. Darin beklagt er, dass die hübschen College-Mädels ihn immer abgewiesen hätten und er "in Einsamkeit verrottet", während alle anderen "sich dem Hedonismus hingeben". Und diese Frauen wolle er jetzt bestrafen, sie auslöschen. Dazwischen lacht er befremdlich. Es ist ein gestörter Mensch, der hier spricht. Die Kolumnistin nahm aber dieses Video - vielleicht, weil der Schütze der Sohn eines Film-Arbeiters ist - zum Anlass, einen Rundumschlag zu starten gegen ein machohaftes Hollywood, das vorgaukelt, dass auch die unattraktivsten Verklemmtesten im Happy-End das Mädchen erobern.
Schauspieler Seth Rogen, den sie indirekt angriff, und Komödien-Regisseur Judd Apatow, den sie erwähnte, wehrten sich zu Recht gegen die Auslegung. Wenn die Autorin auch richtig liegen mag mit der Diagnose einer männlich dominierten Filmindustrie: Das Erzählsystem, dass der Antiheld am Ende erfolgreich ist, liegt Hollywood seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Anbeginn zugrunde. Der Gesellschaft hat das bisher nicht geschadet. Denn so gesehen dürfte man wohl auch den guten alten Entwicklungsroman keinem Jugendlichen mehr zu lesen geben. Sicherheitshalber.