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Aserbaidschan will sich seine verlorenen Gebiete zurückholen.
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Stepanakert. Der schwere Helikopter des sowjetischen Typs Mi-8 steuert über tiefen Schluchten an herbstlich bunt gefärbten Berghängen vorbei zum neu gebauten Flughafen Stepanakert. Seit mehr als einem Jahr sind 2,1 Kilometer Landebahn, Tower, Passagierhalle fertig. Der Airport fehlt auf der IATA-Liste - so wie die ganze Republik Berg-Karabach auf politischen Weltkarten. Denn der 1991 gegründete Staat wird nur von Armenien anerkannt. Für eine Stunde aber sind beide Checkin-Schalter mit Mädchen in blau besetzt, stehen Zöllner bereit, warten Bildschirme auf das Handgepäck. Alles nur Chimäre, Fürst Potemkin lässt grüßen. Denn der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan blockiert jeden zivilen Linienverkehr.
Noch ist es ein Krieg der Worte. Jede Linienmaschine werde abgeschossen, drohte Baku. Im ersten Linienflugzeug von Jerewan nach Stepanakert werde er selber sitzen, antwortete Sersch Sarkissjan, Präsident Armeniens - der aus Karabach stammt und einer der Oberbefehlshaber der siegreichen "Selbstverteidigungskräfte" im armenisch-aserischen Krieg 1992/94 war.
Fragiler Friede
An dieser Front im Südkaukasus stehen einander die Erben eines ehemaligen Großreichs mit der ältesten christlichen Staatskirche und ein nach dem Ersten Weltkrieg von Lenin mit den Jungtürken - die 1915/16 wenigstens eine Million Armenier massakriert hatten - paktierten islamischen Staatsgebilde gegenüber. Die Armenier nennen die Aseri "Türken". Jerewan und Baku betonen in der UNO, im Europarat, in der OSZE gebetsmühlenartig ihrer Bereitschaft, in Verhandlungen den nach einem Waffenstillstand unter Moskauer Diktat "eingefrorenen" Krieg zu beenden. Doch mehren sich die Zeichen, dass sich das ölreiche Aserbaidschan die ihm seit 1988 - seit dem ersten noch innersowjetischen Aufstand seiner armenischen Untertanen - entzogenen Gebiete zurückholen will.
In Stepanakert hat sich die im September 1991, drei Tage nach Aserbaidschan, unabhängig erklärte Republik Berg-Karabach (RNK) behaglich eingerichtet. Keine Spur von Spannung oder Angst im neu gebauten Parlamentsgebäude oder im Basar. Der Anteil von Mercedes und BMW auf den Straßen nähert sich südeuropäischen Werten. Vom Krieg sieht man hier nur mehr Plakate an Hauswänden, die an das 20-Jahr-Jubiläum seines Beginns erinnern. Auf den breiten Gehsteigen der "Straße der Freiheitskämpfer" flaniert die Jugend an den Schaufenstern internationaler Outlets vorbei. McDonalds ist noch nicht angekommen. Trotzdem sagt man, Stepanakert sei für Junge schon lustiger als Jerewan. Mit Hilfe Jerewans und der armenischen Diaspora - sechs Millionen zwischen Aleppo und Vancouver - wurde die Hauptstadt herausgeputzt. Als Schaufenster.
Während sich in Aserbaidschan unter dem 2003 gestorbenen Präsidenten Haydar Aliyev und dessen Sohn und Nachfolger Iham Aliyev ein autoritäres Regime verfestigte, bauten die Armenier in Berg-Karabach nach einem Referendum 2006 eine vorbildlich demokratische Staatsstruktur auf. Die Todesstrafe wurde 2003 abgeschafft. Wie weit gilt die ordentliche Gewaltentrennung für die zweimal größere Fläche der zusätzlich zur ehedem autonomen aserischen Region Nagorno-Karabach besetzen Gebiete? Das will der Parlamentspräsident Ashot Ghoulian im Interview nicht präzisieren. "Auch dieses Gebiet ist Karabach." Mit einer zivilen Verwaltung? "Ja." Nach aserischer Darstellung stehen die besetzten Gebiete unter Militärkommando. Das Liegenschaftsamt in Stepanakert wird bewacht wie eine Kaserne.
Brutaler Konflikt

Vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung in Graz wurde der Konflikt in einer Studie 2011 dargestellt (Christoph H. Benedikter: "Brennpunkt Berg-Karabach", Studienverlag). Aserbaidschan verlor 13,4 Prozent seines Territoriums, 724.000 Aseris wurden aus Armenien, Berg-Karabach und den umliegenden Bezirken vertrieben. Es gab 12.000 Tote, noch immer leben Flüchtlinge in Lagern. Armenien beklagt ebenso viele Tote, 300.000 bis 500.000 Armenier wurden aus Aserbaidschan bzw. armenischen Grenzgebieten vertrieben. 9000 bis 12.000 fanden eine neue Heimat im eroberten Territorium. Doch der Großteil ist "unbewohnt und weitestgehend devastiert". Dass auch die besetzten Gebiete altes Armenierland sind bezeugen Kirchen und Klöster, die den Kommunismus überdauert haben. Noch 2005 zerschlugen die Aseri in ihrer Enklave Nakitsewan trotz Unesco- und Europarat-Protesten Tausende antike Kreuzstelen.
Im Helikopter überfliegt man Streusiedlungen, von denen nur mehr Fundamente und Mauerreste weiß heraufleuchten. Alles Land hat dem kommunistischen Staat gehört. Darum haben die Vertriebenen keine Rechtsansprüche. Ein peinliches Siegesmal wurde in Wank unter dem perfekt restaurierten Bergkloster Gandzasar aufgebaut. Dieses Dorf genießt die Förderung eines in Russland reich gewordenen Armeniers. Er finanziert Schulen, Fabriken und einen Freizeitpark. Die Wände an den Straßen im Gemeindezentrum bedecken Autonummerntafeln Getöteter oder Vertriebener Aseri. Ein besonderer Hohn: Auch der Abgang zum öffentlichen WC ist derart dekoriert.
Das Staatliche Museum in Stepanakert bietet heute noch eine Heimatschau wie in Sowjettagen. Programmsätze in cyrillischen Buchstaben über den Vitrinen sind getilgt. Im kommenden Jahr wird ein Neubau begonnen, wurde der Direktorin Melanya Balayan versprochen. Sie sitzt unter einer Landkarte des armenischen Reichs zur Zeit der Christianisierung unter dem Arsakiden-König Trdat III. ab 298. Verwahrt sie auch aserisches Kulturgut? "Die Türken haben nichts." Zwei Bildteppiche sind aufbewahrt. Einer zeige Aserbaidschans Revolutionshelden Nariman Narimanov - der es ins Politbüro nach Moskau gebracht hat - neben Lenin. Viele Goldfunde aus der Antike liegen in der Eremitage in St. Petersburg.
"Wir sind froh und frei"
Die Aseri hatten die Mehrheit in der Festungsstadt Schuschi. Von hier wurde das nahe Stepanakert unter Beschuss genommen. Seit dem letzten Lokalaugenschein vor zehn Jahren wurden nur wenige der zerstörten Gebäude instand gesetzt. Hinter der verfallenden großen Moschee ein Trümmerviertel. Erzbischof Pargev steht vor der in neuem Glanz strahlenden Erlöserkirche von Schuschi. Wie nimmt seine Gemeinde das Eingeschlossen-Sein auf, denn die "Welt" beginnt erst sechs Autostunden weiter in Jerewan. "Wir haben die Blockade schon seit 1988. Man hat sich der Situation ein bisschen angepasst. Aber wir sind glücklich und froh - weil frei und unabhängig." Aserbaidschan und die Türkei haben die Grenzen zu Armenien geschlossen. Waren nach Europa müssen mit Trucks durch Georgien zum Schwarzmeerhafen Poti gefahren werden. Öl und Gas fließen in neuen Pipelines von Baku über Tiflis in die Türkei. Auch das unter OMV-Führung gestartete Nabucco-Projekt macht einen Bogen um Armenien.
Kommt der Krieg?
Immer mehr armenische Karten zeigen die besetzten Gebiete integriert in eine "Republik Artsak", welche den 1994 fixierten Korridor von Lachin (nun zurückbenannt auf Berdzor) als Landbrücke zu Armenien nicht mehr braucht. Artsak ist ein älterer Name für ganz Karabach. Die Grenzen zu Aserbaidschan werden von Armeniern gemeinsam mit der Protektionsmacht Russland bewacht. Dort mehren sich heuer die Zwischenfälle.
Nimmt die Kriegsgefahr zu? Aserbaidschan zahlt für seine Hochrüstung pro Jahr mehr, als das Staatsbudget Armeniens ausmacht. Israel liefert Waffen und schickt Ausbildner an Irans nördlichen Nachbarn. Der Aseri-Offizier Ramil Safarow schlug 2004 in Budapest bei einem Nato-Lehrgang mit einer Axt einem im Bett schlafenden armenischen Kollegen den Kopf ab. Nach kurzer Haft entließen ihn die Ungarn, in Baku bekam er sein Salär nachgezahlt und wurde wieder Major.
Kommt der Krieg? Nicht gegen den Willen der armenischen Schutzmacht Russland. Aserbaidschan wird von den USA gebremst. Ein Schlag Israels gegen den Iran könnte die Balance zum Kippen bringen. Aserbaidschan grenzt an Iran und ist aufgefüllt mit israelischen Arsenalen.
Berg-Karabach: Das etwa 4400 Quadratkilometer umfassende Berg-Karabach war zu Sowjetzeiten autonomes Gebiet innerhalb der Aserbaidschanischen Republik, das überwiegend von Armeniern bewohnt wurde. Die Armenier warfen der Regierung in Moskau vor, Karabach 1920 unrechtmäßig den Aserbaidschanern zugeteilt zu haben.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1990 verstärkten die Armenier ihre Forderungen nach einer Loslösung von Aserbaidschan. Seit Ende der achtziger Jahre gab es Auseinandersetzungen zwischen beiden Ethnien.
Nach der Unabhängigkeitserklärung der Region 1991 kam es zum offenen Krieg, bei dem das Nachbarland Armenien Karabach unterstützte. Im Zuge des Konflikts wurden etwa 30.000 Menschen getötet, mehr als eine Million Menschen mussten vor den brutalen Kämpfen flüchten.
1994 wurde unter Vermittlung Russlands ein Waffenstillstand vereinbart. Bis dahin hatte die armenische Seite neben Berg-Karabach sieben weitere umliegende Bezirke als "Pufferzone" eingenommen.
Die Unabhängigkeit Berg-Karabachs wurde bisher nur vom Nachbarland Armenien anerkannt. Aserbaidschan betrachtet das von den Armeniern besetzte Gebiet weiter als untrennbaren Teil seines Territoriums und will die Kontrolle unbedingt wiedererlangen.