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Gefährliche Zahlen-Spiele

Von Reinhard Göweil, Brigitte Pechar und Simon Rosner

Politik

Die Flüchtlinge kosten auch Österreich Geld, die Rede ist von einer Milliarde - das Sozialsystem dürfte davon auch profitieren.


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Wien. Die heutige Regierungsklausur steht ganz im Zeichen der Flüchtlinge, die nach Europa drängen. Im Bundeskanzleramt beraten die Ressortchefs gemeinsam mit dem neuen Flüchtlingskoordinator, Ex-Raiffeisen-Boss Christian Konrad, die Situation. In Österreich ist damit zu rechnen, dass heuer etwa 40.000 Menschen Asyl erhalten werden. Nach einer Schätzung des Außenministeriums, das auch für Integration zuständig ist, wird die gesamte Flüchtlingsbetreuung Österreich rund eine Milliarde Euro kosten, inklusive der möglichen Belastung des Sozialsystems. Eine ähnliche Zahlenspielerei gibt es im stärker betroffenen Deutschland, das mit zehn Milliarden Euro rechnet.

Allerdings ist dieses Zahlenspiel nicht ungefährlich, da die langfristigen Auswirkungen der Migration kaum zu berechnen sind. Denn die demographische Entwicklung sagte - vor dieser enormen Zahl an Schutzsuchenden - für Europa eine stagnierende Bevölkerung voraus. Das Verhältnis der aktiven Bevölkerung (bis 64 Jahre) und der über 65-Jährigen hätte sich demnach bis 2060 in der EU von jetzt 4:1 auf 2:1 verändert. Im Klartext: Immer weniger Berufstätigen stehen immer mehr Pensionisten gegenüber. Die Pensionssysteme, die von Berufstätigen mit Abgaben "befüllt" werden, wären damit weit überfordert. Die jetzige Zuwanderung könnte also ebenso gut eine Entlastung bedeuten, sagen Arbeitsmarktexperten, und keine Belastung. Zu diesem Schluss kamen am Donnerstag auch deutsche Berechnungen. Der dortige Chefvolkswirt der Unicredit rechnet durch die Zuwanderung in Deutschland mit einem Wachstumsimpuls in Höhe von 50 Milliarden Euro. Auf die Größe Österreichs umgerechnet wären das fünf Milliarden, also weit mehr als die jetzt anfallenden Kosten der Betreuung.

Leichterer Zugang zum Arbeitsmarkt

Bei der Regierungsklausur im Bundeskanzleramt geht es allerdings um kurzfristigere Ziele. Am Donnerstag Nachmittag diskutierten die Spitzen beider Regierungsparteien noch um das Flüchtlings-Paket, das beschlossen werden soll. Neben der Frage, wie ausreichend Winter-Quartiere zur Verfügung gestellt werden können, geht es auch um die Frage, ab wann Asylsuchenden Zugang zum Arbeitsmarkt gewährt wird. Derzeit ist ein positiver Asylbescheid dazu notwendig. Ein möglicher Kompromiss könnte sein, dass sechs Monate nach dem Asylantrag der Arbeitsmarkt für diese schutzsuchenden Menschen aufgeht. In manchen Bereichen, etwa bei der Pflege oder am Bau, könnte dies eventuell früher geschehen.

Damit beginnen für die Regierung allerdings die Mühen der Ebene, die weit über populistische Sprüche wie "Grenzen dicht" hinausgehen. "Der heimische Arbeitsmarkt wurde in den vergangenen Jahren stärker durch EU-Binnenwanderung belastet als der deutsche. Es ist dort leichter möglich, den Arbeitsmarkt zu öffnen, als bei uns", ist aus dem Bundeskanzleramt zu hören. Zudem ist derzeit in Deutschland das Wirtschaftswachstum höher als in Österreich.

Und dazu kommt auch noch die fehlende europäische Regelung. Dem Plan von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker - ein Arbeitsrecht für Asylwerber ab dem ersten Tag des Verfahrens - wird in der Regierung in Wien wenig Chance auf Realisierung eingeräumt. Die Unsicherheiten sind groß. Was Ungarn macht, ist für heimische Behörden ein schwarzes Informationsloch und kaum einzuschätzen. Ob Deutschland die Flüchtlinge weiterhin aufnimmt, ebenso. "Wenn Deutschland keine Flüchtlinge mehr nimmt, sind wir in Österreich nach spätestens fünf Tagen am Rande der Kapazität", sagte ein hoher Beamter des Innenministeriums zur "Wiener Zeitung".

Der politische Druck, vor allem in der ÖVP, ist hoch. "Die bayerische CSU bombardiert uns mit Anrufen", sagte ein hochrangiger ÖVP-Politiker zur "Wiener Zeitung". "Wir sollen unsere Grenze zu Ungarn dichtmachen, damit keine weiteren Flüchtlinge mehr kommen."

Auf der "Balkan-Route" befinden sich derzeit Zehntausende Flüchtlinge, die nach Deutschland wollen. Hier zeigt sich wiederum das Fehlen einer europäischen Regelung. "Wenn wir unseren Arbeitsmarkt für Flüchtlinge sofort öffnen und sonst in der EU niemand, würden alle in Österreich bleiben", sagte ein SPÖ-Verhandler. "Das ist den Flüchtlingen nicht anzulasten, sondern der restriktiven Haltung anderer EU-Staaten." Bundeskanzler Werner Faymann ist einigermaßen konsterniert über das Gespräch mit seinen Amtskollegen in der Slowakei und Tschechien: "Wie erklären Sie sich, dass wir in Österreich gut 50.000 Asylwerber haben, davon die Mehrzahl in Wien, aber keiner nach Prag gehen will", sagte er kürzlich.

Und es gibt auch noch unterschiedliche Auffassungen innerhalb der Regierungsparteien. So will die ÖVP die "Rot-Weiß-Rot-Karte" in das Flüchtlingspaket einbinden und deren Kriterien weniger bürokratisch gestalten. "Wir bauen Hürden auf für gut Ausgebildete, die wir benötigen. Das ist doch verkehrt", sagte Außenminister Sebastian Kurz am Rande des Iran-Staatsbesuchs zu Journalisten. Die SPÖ dagegen will die gezielte Zuwanderung von gut qualifizierten Menschen, die der heimischen Wirtschaft abgehen, nicht mit der jetzigen Flüchtlings-Frage koppeln.

Wünsche der Caritasan die Regierung

Für die Flüchtlingshilfsorganisationen wäre eine Soforthilfe für die Notunterbringung vorrangig. Bernd Wachter, Generalsekretär der Caritas Österreich, formulierte im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" drei Wünsche der NGOs an die Regierung.

Der erste Wunsch: Für Sofortmaßnahmen brauche es 20 Millionen Euro von der Regierung, damit die Hilfe am Laufen gehalten werden könne. Denn mit den Spenden alleine werde man bei dieser Größenordnung der ankommenden Menschen für die Notversorgung nicht auskommen.

Der zweite Wunsch: Es müsse ein Flüchtlingswohnraumfonds geschaffen werden. Es gebe noch immer ein akutes Grundversorgungsproblem, erläuterte Wachter. "Wir gehen davon aus, dass heuer 80.000 Menschen in Österreich um Asyl ansuchen, die auch den Winter hier verbringen werden. Es braucht daher ein massives Investment in Wohnraum. Dazu ist ein Flüchtlingswohnraumfonds zu schaffen, mit dem NGOs und der Bund Quartiere anmieten können." Wie hoch dieser Fonds dotiert werden sollte, kann Wachter nicht sagen. Klar sei eines: "Nur mit den Tagsätzen kommen wir nicht aus. Es braucht ein Investment, damit das Zusammenwirken des Flüchtlingskoordinators, der Länder, der NGOs auf den Boden kommt."

Der dritte Wunsch betrifft die Integration. Da die Asylanträge der syrischen Flüchtlinge sehr wahrscheinlich positiv erledigt werden, müsse sofort ein umfassendes Integrationsprogramm gestartet werden. "Wir brauchen Sprachangebote, interkulturelle Begegnungsangebote und vor allem Kompetenzchecks, damit die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt kommen", sagt Wachter. "Integration der Flüchtlinge ist die Großbaustelle. Wir werden sonst in ein manifestes Integrationsproblem hineinschlittern." Die Caritas fordere, dass Flüchtlinge nach sechs Monaten im Asylverfahren arbeiten gehen dürfen - auch um das Sozialsystem zu entlasten. Die Einbettung in den Arbeitsmarkt sei der wichtigste Integrationsmotor. Dazu brauche es gezielte Programme - "nicht morgen und nicht übermorgen, sondern rasch". "Das Ganze ist eine volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung: Was wir jetzt investieren, wird dem System morgen zugute kommen. Wenn wir nicht investieren, verschieben wir das alles in Sozialtöpfe." Arbeitsplätze könnte man von der Bauwirtschaft bis hin zu den Pflegeberufen schaffen.

Das Thema Arbeitsmarkt wird bei der Regierungsklausur ebenso besprochen werden - wie auch die Quartiersuche. Bei den Bürgermeistern hat der geplante Zuteilungsschlüssel für Aufregung gesorgt, derzeit sind 800 von ihnen in Wien zu Gast am Gemeindetag, der Kommunal-Messe des Gemeindebundes. Pikanterweise eröffnete am Donnerstag ausgerechnet Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, die Betreiberin dieses umstrittenen Durchgriffsrechts, die Messe. "Die Republik braucht so ein Instrument", sagte sie in Richtung der Ortsvorsteher, "auch wenn es mir lieber ist, wenn wir es kein einziges Mal in Anspruch nehmen müssen."

Gemeinden: Vorschriftenfür Quartiere abbauen

Gemeindebund-Chef Helmut Mödlhammer hält die Verpflichtung für die Gemeinden, Quartier für zumindest 1,5 Prozent der Bevölkerungszahl bereitzustellen, nicht nur für verfassungswidrig, sondern auch für undurchführbar. "Die Gemeinden haben 70.000 Gebäude im Besitz; Schulen, Kindergärten oder auch Gemeindehäuser, aber eben keine Flüchtlingsunterkünfte. Da sind wir auf Private angewiesen", sagt Mödlhammer. Meist sind es ehemalige Gasthöfe oder Pensionen, in denen Flüchtlinge Unterkunft finden, nicht jede Gemeinde verfügt aber über diese Infrastruktur, bisweilen gibt es einfach keine geeigneten Gebäude.

Aus dem Plan der Regierung spricht wohl auch bereits die Sorge, dass der Herbst die Situation sehr dramatisch verschärfen könnte. Ohne das geplante Verfassungsgesetz drohe, so Mikl-Leitner, eine "menschliche Bankrotterklärung".

Aber auch die Kostenseite wurde von den Gemeindechefs angesprochen. Finanzminister Hans Jörg Schelling zeigt sich eher restriktiv. Er wird mit seinen EU-Ressortkollegen aber heute und am Samstag beim Ecofin beraten, wie man die Kosten für die Flüchtlinge budgetär bewertete. Sehr wahrscheinlich ist, dass diese nicht maastrichtwirksam werden.

Für die Gemeinden wäre es schon eine kostengünstige Hilfe, wenn die Auflagen für Quartiere und die Bürokratie abgebaut werden könnten. "Man sollte den Begriff Übergangsquartier schaffen", sagt Mödlhammer. "Mir ist lieber, es fehlt ein Waschbecken oder ein Brandschutzmelder, als dass die Flüchtlinge draußen schlafen." Zu diesem Aspekt könnte die Regierung heute eine Lösung präsentieren.