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Gefährlicher Mix

Von WZ-Korrespondent Ferry Batzoglou

Wirtschaft

Unaufhörlich steigen die griechischen Staatsschulden, aber auch die Privatschulden. Das kann gefährlich werden.


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Nikos P. ist einer von ihnen. Er steht beim hellenischen Fiskus in der Kreide. Seine Steuerschuld beträgt aktuell 4.323,33 Euro. Sie wächst jeden Tag - wegen der Verzugszinsen. Er habe keine andere Wahl, stöhnt er. "Ich arbeite in einem Hotel im Empfang und verdiene 900 Euro netto im Monat, habe Frau und zwei kleine Kinder. Damit komme ich hier in Athen kaum über die Runden. Zuerst denke ich an die Milch für meine Kinder, dann erst an den Staat", sagt er.

Der Grieche ist kein Einzelfall. Im Gegenteil: Die rechtskräftigen Steuerschulden aller Griechen waren auf dem vorläufigen Höhepunkt der Griechenlandkrise im Frühjahr 2012 auf den historischen Rekordstand von 45 Milliarden Euro gestiegen - ein Zuwachs von 14 Milliarden Euro seit Oktober 2009, als Griechenland mit Karacho auf den faktischen Staatsbankrott zusteuerte.

Heute, zehn Jahre später, haben sich die rechtskräftigen Steuerschulden in Griechenland fast verdreifacht. Konkret standen knapp vier Millionen der gut zehn Millionen Griechen per Ende April 2022 mit genau 112,5 Milliarden Euro beim Fiskus in der Kreide - ein neuer historischer Rekordstand. Tendenz: weiter steigend. Um diese Steuerschulden einzutreiben, sind aktuell 1.356.500 Zwangspfändungen ausgestellt worden.

Ferner haben sich die ausstehenden Sozialbeiträge an die gesetzliche Versicherungskasse EFKA, die per Ende März 2022 von insgesamt genau 2.423.573 Schuldnern zu entrichten sind, auf den historischen Rekordstand von 42,8 Milliarden Euro erhöht. Auch hier gilt: Tendenz weiter steigend. Allein in den ersten drei Monaten 2022 hat sich die Zahl der EFKA-Schuldner - ob Unternehmen, Selbstständige oder Arbeitnehmer - um weitere 444.375 erhöht.

Obendrein belaufen sich die bei den griechischen Geschäftsbanken aufgenommenen Kredite wie Konsumentenkredite, Baudarlehen sowie Kredite für Unternehmen per Ende März 2022 (jüngere Daten liegen noch nicht vor) auf insgesamt 162,017 Milliarden Euro. Davon entfallen 18,787 Milliarden auf sogenannte "faule" Kredite - auf Bankkredite, die mindestens 90 Tage nicht mehr bedient werden.

Doch damit nicht genug: Per März 2022 hatten die griechischen Geschäftsbanken schon weitere 87,661 Milliarden Euro dieser notleidenden Kredite an eigens von der Athener Notenbank (TTE) lizensierten Kreditverwaltungsfirmen (EDADP) verkauft. Zu Spottpreisen. Der Vorteil für die Banken: Diese Kredite tauchen nicht mehr in den Geschäftsbüchern auf, sind aber selbstredend nicht aus der Welt - und schon gar nicht aus Hellas. Der Privatschuldner wird eben von den neuen Gläubigern, den EDADP, zur Begleichung seiner Schuld aufgefordert - oftmals mit rüden Methoden.

In Summe beläuft sich so die Privatschuld der Griechen aus rechtskräftigen Steuerschulden, ausstehenden Sozialbeiträgen und faulen Bankkrediten auf aktuell 261,74 Milliarden Euro. Dafür sind saftige Bußgelder, Strafzuschläge und Zinsen fällig, solange die Schuld nicht getilgt ist. Rechnet man die Bankkredite im "grünen" Bereich, die also (noch) bedient werden, dazu, beträgt die Privatschuld der Griechen und Griechinnen sogar 404,97 Milliarden Euro.

Dabei sind die derzeit wegen explodierender Energiepreise rasant gestiegenen Schulden von Privatpersonen und Unternehmen an Strom- und Wasserversorger noch gar nicht berücksichtigt. Hinzu kommen ungedeckte Schecks und unbezahlte Wechsel. Sie wiesen per Ende Mai 2022 ein Volumen in Höhe von 42,7 Millionen Euro auf.

Staatsschuld auf Rekordhoch

Im Sumpf der Schulden stecken die Griechen aber nicht nur wegen ihrer explodierenden Privatschulden. Hinzu kommt auch die Staatsschuld, die ab Ende 2009 eine massive Finanzkrise auslöste. Damals betrug die griechische Staatsschuld noch 298 Milliarden Euro. Dem folgenden rigorosen Sparkurs in Athen zum Trotz: Der griechische Schuldenberg ist seither größer geworden.

Denn per Ende März 2022 belief sich die griechische Staatsschuld auf genau 394,547 Milliarden Euro - ein neues Allzeithoch. Tendenz auch hier: weiter steigend. Alleine in den ersten drei Monaten dieses Jahres erhöhten sich die Verbindlichkeiten des griechischen Staates um weitere gut sechs Milliarden Euro.

Politiker und Experten in Athen und anderswo weisen nun gerne beruhigend auf den Umstand hin, dass - anders als beim Ausbruch der Griechenlandkrise - Hellas‘ öffentliche Kreditgeber wie die EU, die EZB und der IWF per Ende März 77 Prozent der hellenischen Staatsschuld hielten, private Kreditgeber nur die restlichen 23 Prozent. Dafür hat der Fiskus zudem aktuell einen effektiven Jahreszins von durchschnittlich relativ niedrigen 1,52 Prozent zu berappen. Die durchschnittliche Laufzeit der Kredite beträgt zudem 18,22 Jahre, eine vergleichsweise lange Laufdauer. Daher drohe anders als 2009 keine neue Staatsschuldenkrise in Griechenland, so deren Lesart.

Bei einer Staatsschuld von 394,547 Milliarden Euro belaufen sich dafür aber allein die jährlichen Zinskosten auf derzeit etwa 6 Milliarden Euro. Wächst die griechische Staatsschuld weiter oder steigt der effektive Jahreszins dafür oder passiert gar beides, dann hat der hellenische Fiskus allein für Zinsen noch mehr zu berappen. Eine gefährliche Schuldenspirale.

Noch etwas kommt dazu: Coronabedingt drehte das griechische Haushaltsplus aus den vier Jahren von 2016 bis 2019 danach wieder ins dicke Minus. Im Jahr 2020 belief sich das griechische Haushaltsdefizit auf exorbitante 10,2 Prozent, 2021 schloss mit einem Minus von 7,4 Prozent.

Will heißen: Der griechische Staat macht wieder neue Schulden. Weil aber die Kredite der öffentlichen Kreditgeber EU, EZB und IWF seit August 2018 nicht mehr nach Athen fließen, muss sich Hellas wieder auschließlich an den internationalen Kapitalmärkten finanzieren. Das ist mittlerweile wieder teuer. Der Zins für die zehnjährige griechische Staatsanleihe ist auf vier Prozent geklettert. Im August 2021 lag er noch bei 0,5 Prozent. So wird der Kapitaldienst in Sachen Staatsschuld erneut zu einem schwerwiegenden Kostenfaktor.

Neue Sparrunden in Athen an anderer Stelle sind da vorprogrammiert - mit den bekannt fatalen ökonomischen und sozialen Folgen. Ihre schon jetzt horrende Privatschuld abzustottern, würde den Griechen und Griechinnen dann noch schwerer fallen - die Steuerschulden eingeschlossen. Ein Teufelskreis.

Motto: "Ich zahle nicht!"

Addiert man nun die Privatschuld der Griechen und die griechische Staatsschuld, ergibt sich eine Gesamtschuld in Höhe von 799,5 Milliarden Euro. Brisant ist dabei, dass der Gesamtschuld von knapp 800 Milliarden Euro eine im Jahr 2021 auf nur noch 182,83 Milliarden Euro und damit auf das Niveau der Nuller-Jahre eingebrochene jährliche Wirtschaftsleistung gegenübersteht. Die Gesamtschuld der Griechen ist damit fast viereinhalb Mal so groß wie das griechische Bruttoinlandsprodukt (BIP) im vorigen Jahr.

Daran ändert auch die in Griechenland traditionell große Schattenwirtschaft nicht viel. Sie wird auf etwa 20 Prozent der offiziellen Wirtschaftsleistung geschätzt. Dies würde rund 36 Milliarden Euro extra bedeuten, auch kein wirklicher "Gamechanger". Manche Experten warnen, besonders die in die Höhe geschnellte Privatschuld der Griechen sei schon jetzt nicht abzustottern. Nur ein Bruchteil der Privatschuldner gehe entweder auf die vielfältigen offerierten Tilgungspläne ein oder halte sie nach einer Vereinbarung in der Praxis auch konsequent ein, heben sie hervor. Obendrein kommen immer neue Privatschulden hinzu. Getreu dem Motto: "Den plirono!" ("Ich zahle nicht!") Der Staat scheint machtlos. Die unweigerliche Folge: Der private Schuldenberg der Griechen wird immer höher.

Bliebe die ultimative Schuldenfrage in der unsäglichen Causa Hellas: Wer soll das alles bezahlen? Pfändungen brächten zwar etwas, reichen aber offenkundig nicht aus. Fest steht, dass das gesamte Privatvermögen der Griechen seit Krisenbeginn um rund ein Drittel eingebrochen ist.

Die Spar- und Termineinlagen der Griechen (Privathaushalte und Unternehmen) bei einheimischen Geldinstituten beliefen sich Ende April 2022 auf 178,235 Milliarden Euro. Davon entfielen 136,09 Milliarden Euro auf Privathaushalte. Hinzu kommen andere bewegliche Vermögenswerte wie Bargeld (auch unter der Matratze), Gold oder Aktien von geschätzt etwa 70 Milliarden Euro.

Unbewegliche Vermögenswerte wie Privat- und Firmenimmobilien schlagen laut jüngster vom Fiskus vorgenommener Anpassung des Verkehrswertes mit 752 Milliarden Euro zu Buche. Davon entfallen 577 Milliarden auf Privatimmobilien und 175 Milliarden auf Firmenimmobilien. Folglich liegt das gesamte Privatvermögen der Griechen mit rund einer Billion Euro nur etwas höher als die stetig zunehmende Gesamtschuld aus Staats- und Privatschuld.