Jeremy Corbyn boykottiert Gespräche Mays mit Abgeordneten. Die Brexit-Position von Labour ist immer noch unklar.
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London/Wien. Die Misstrauensabstimmung in Westminster hat Theresa May überstanden. Etwas geändert oder die Premierministerin gar gestärkt hat das aber nicht. Nur zehn Wochen vor dem geplanten EU-Austritt am 29. März herrscht in London immer noch gefährlicher Stillstand. Bis Montag muss die Tory-Chefin dem Parlament ihren Plan B präsentieren, in der Woche darauf sollen die Abgeordneten darüber abstimmen. Dabei fragt sich, was May an ihrem Brexit-Deal, mit dem sie in Westminster eine historische Niederlage eingefahren hat, noch ändern kann. Viel mehr als die ein oder andere kosmetische Verbesserung wird ihr kaum gelingen. Brüssel wehrt sich, das Paket neu aufzuschnüren und May Zugeständnisse im umstrittenen "Backstop" zu machen.
Immerhin eine neue Entwicklung gibt es in London: May führt nun Gespräche mit der Opposition, um deren Vorschläge zum Brexit einzuholen. Der Vorstoß unterstützt die These, dass May sich nun vor allem um wankelmütige Labour-Abgeordnete kümmern muss, um ihr Abkommen doch noch durchs Unterhaus zu bekommen. Eine Mehrheit will einen ungeordneten Brexit verhindern - das könnte May nutzen. Doch abgesehen davon gibt es im Parlament keine Einigkeit. Und May lehnt alle Vorschläge - etwa einen Verbleib in der Zollunion oder ein zweites Referendum - entschieden ab.
Bisher hat die Premierministerin das Unterhaus stiefmütterlich behandelt. Obwohl die konservativen Tories bei den Neuwahlen 2017 ihre Mehrheit im Unterhaus verloren und seither auf die zehn Abgeordneten der nordirischen DUP angewiesen sind, schloss May das Parlament weiterhin vom Brexit-Prozess aus. Den EU-Austritt wollte sie ursprünglich ohne Mitsprache der Abgeordneten durchziehen. Erst ein Urteil des Obersten Gerichts zwang sie dazu, die Zustimmung des Parlaments einzuholen.
Derzeit scheint es allerdings, als wollte May die Abgeordneten so lange über ihren Deal abstimmen lassen, bis sie zustimmen müssen - weil das Königreich sonst ohne Abkommen aus der EU schlittern würde.
Corbyn will sein eigenes Abkommen präsentieren
Jeremy Corbyn, als Labour-Chef der Kopf der größten Oppositionspartei des Landes, ist bei den Gesprächen mit May nicht dabei. Er hat angekündigt, diesen "Trick" der Premierministerin zu boykottieren, bis die Regierung einen No-Deal-Brexit ausschließt.
Für ein zweites Referendum wollte sich der Labour-Chef auch am Donnerstag nicht aussprechen. Dabei hatte seine Partei vereinbart, dass er genau das tun sollte, falls ein Misstrauensvotum gegen die Regierung scheitert. Stattdessen, so Corbyn bei einer Rede im südenglischen Hastings, werde er versuchen, die Abgeordneten von seinem eigenen Brexit-Vorschlag zu überzeugen. Der Plan, den Corbyn in Form von Änderungsanträgen einbringen will, sieht "eine dauerhafte Zollunion vor sowie das Recht auf Mitsprache bei künftigen Handelsabkommen". Zudem will Corbyn eine starke Anbindung an den europäischen Binnenmarkt sowie an EU-Vorschriften betreffend Arbeit, Umweltschutz und Verbraucherstandards. "Diese drei Punkte bilden die Basis für ein vernünftiges Abkommen, das eine Mehrheit im Parlament gewinnen würde", ist der Labour-Chef überzeugt.
Zumindest für zwei der drei Punkte auf Corbyns Liste finden sich auch in Mays Kabinett Sympathisanten. Problematisch ist jedoch Labours Wunsch, in den Genuss aller Vorteile des Binnenmarktes zu kommen, ohne ein volles Mitglied zu sein. Das hat Brüssel von Anfang an klar abgelehnt. Gäbe es für Großbritannien die Möglichkeit, in der Zollunion zu bleiben und gleichzeitig eigene Handelsabkommen mit anderen Staaten zu vereinbaren, wären wohl auch die Tories dafür.
Corbyn schließt zweites Misstrauensvotum nicht aus
Seine Hoffnung auf Neuwahlen will Corbyn auch nach dem gescheiterten Misstrauensvotum gegen May nicht aufgeben. Möglicherweise werde seine Partei ein weiteres Misstrauensvotum stellen. Für den Fall, dass auch Mays Plan B (und, bei erneuter Ablehnung, etwaige Nachfolgerideen) im Parlament scheitert und das Land ansonsten einen No-Deal-Brexit erleben müsste, könnte Labour damit sogar Erfolg haben.
Und dann? Was genau er, einmal an der Macht, tun würde, will Corbyn nicht verraten. Auch seine Position bei einem zweiten Referendum bleibt im Dunkeln. Würde Corbyn, der alte EU-Gegner, sich dann für einen Verbleib aussprechen? Man weiß es nicht.