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Gefährliches Halbwissen

Von Anja Stegmaier und Siobhán Geets

Politik

Die Kritik an Ankara über die Bestrafung von Kindesmissbrauch ist nicht berechtigt - das türkische Gesetz ist besonders streng.


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Wien/Ankara/Stockholm. Ein Aufschrei geht durch die Medien, als 2007 der 17-jährige Marco W. im Türkeiurlaub verhaftet wird. Der Teenager soll eine 13-jährige Britin sexuell missbraucht haben. Die Mutter des Mädchens, von dem Marco glaubte, es sei bereits 15, zeigt den Jungen an, er wird sofort verhaftet. Shitstorms gibt es damals noch nicht, aber die Empörung auch von Politikern in Europa ist groß. Über acht Monate sitzt der junge Mann in Untersuchungshaft in der Türkei, ihm droht eine Jugendstrafe von bis zu fünf Jahren und vier Monaten Gefängnis.

Viel zu streng und unverhältnismäßig, werfen Kritiker der Türkei vor. Wäre Marco erwachsen, müsste er mit einer Strafe von acht bis 15 Jahren rechnen. Bei Geschlechtsverkehr mit Kindern beträgt die Mindeststrafe 16 Jahre. Die Rufe nach Gesetzesreformen aus Europa werden laut.

Der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verschärft 2014 die Strafvorschrift bei Kindesmissbrauch. Und diese geht weit über das deutsche oder österreichische Strafmaß hinaus.

2016 erregt ein weiterer Fall die türkischen und europäischen Gemüter - von dem allerdings keiner wirklich die Fakten kennt. "Türkei erlaubt Sex mit Kindern" ist etwa auf dem "Krone"-Newsticker am Flughafen Schwechat zu lesen - woraufhin das türkische Außenministerium einen österreichischen Botschaftsvertreter einberuft. Und auch die Politik prescht vor. Schwedens Außenministerin Margot Wallström fordert via Twitter, die Türkei müsse die Entscheidung, Sex mit Minderjährigen unter 15 zu erlauben, rückgängig machen - und erhält Unterstützung von Regierungschef Stefan Löfven. Ankara weist die Vorwürfe zurück: Wallströms Anschuldigungen seien "haltlos und tendenziös", sie verschleierten die Wahrheit, heißt es aus dem Justizministerium. Als "Skandal" bezeichnet der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu Wallströms Tweet, der auf "Falschinformationen" beruhe. Die türkische Regierung wirft nun Schweden - und auch Österreich - vor, die Entscheidung des Verfassungsgerichts falsch darzustellen.

Missbrauch nicht erlaubt

Und ganz unrecht hat die Türkei hier nicht, denn die Kritik beruht auf gefährlichem Halbwissen. Das Urteil des türkischen Verfassungsgerichtshofs rügt, wie schon in einem Urteil vom November 2015, eine zu wenig differenzierte Regelung der Strafhöhe bei sexuellem Missbrauch von Kindern. Der Gesetzgeber muss bis 13. Jänner 2017 einen neuen Strafrahmen vorlegen. Bis dahin gilt die Strafbestimmung weiter - und auch darüber hinaus ist der Missbrauch von und der Geschlechtsverkehr mit Kindern unter 15 Jahren strafbar. Der verbreitete Glaube, die Türkei erlaube nun Geschlechtsverkehr mit Kindern, sei schlicht "Unsinn", so Rechtsanwalt Christian Rumpf. "Das Gesetz wurde weder aufgehoben, noch annulliert oder gekippt", so der Experte für türkisches Recht. Das Verfassungsgericht habe die Strafbarkeit von Kindesmissbrauch also nicht aufgehoben, sondern stelle zur Debatte, ob man nicht auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze von acht Jahren Strafmaße anbieten müsse, die nach Alter und anderen Unterschieden differenzieren. Der Vorwurf, das Urteil stelle Kindehen unter Straffreiheit, sei nicht der Fall, so Rumpf. Die Gesetzesreparatur helfe im Gegenteil, gezielter dagegen vorzugehen.

Auch bei Geschlechtsverkehr mit Kindern hat das türkische Verfassungsgericht dem Gesetzgeber bis 23. Dezember Zeit gegeben, das Mindeststrafmaß von 16 Jahren neu zu bestimmen.

Eines ist allerdings schon sicher: Die jüngste Auseinandersetzung zwischen Wien und Ankara trägt nicht zur Entspannung der Beziehungen bei. Seit Wochen liefern sich Regierungsvertreter beider Seiten einen verbalen Schlagabtausch. Österreichische Politiker bilden die Spitze der europäischen Anti-Erdogan-Bewegung. Anfang August forderte Verteidigungsminister Hans-Peter Doskozil einen Stopp der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei: "Die Zeichen stehen ganz klar auf Diktatur", ein solcher Staat habe in der EU nichts verloren. Kurz zuvor hatte Bundeskanzler Christian Kern angekündigt, beim Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs im September den Abbruch der Beitrittsverhandlungen debattieren zu wollen - sie seien ohnehin "nur noch diplomatische Fiktion".

"Rassismus und Islamophobie"

Dabei fragt sich, ob die Türkei überhaupt noch an einer Annäherung an die EU interessiert ist. Offiziell ist das noch Linie. Und auch auf die Ankündigung aus Wien, sich in Brüssel für einen Abbruch der Beitrittsgespräche starkmachen zu wollen, reagierte Ankara empört. "Verpiss dich, Ungläubiger", richtete der AKP-Abgeordnete Burhan Kuzu Kanzler Kern über Twitter aus. Und für den türkischen Außenminister Ahmet Cavusoglu ist Österreich ohnehin die "Hauptstadt des radikalen Rassismus". Auch die Reaktionen Österreichs und Schwedens über das Urteil des Verfassungsgerichts seien Zeichen von "Rassismus und Islamophobie".

Während Ankara auf Kritik aus dem Ausland mit Rassismus-Vorwürfen reagiert, werfen Beobachter der österreichischen Regierung vor, mit dem Erdogan-Bashing politisches Kleingeld zu machen. Das betrifft vor allem Kanzler Kern: Er handle aus innenpolitischem Kalkül - und wolle vor allem ÖVP und FPÖ das Wasser abgraben, heißt es.

Als Gegenentwurf zum Populismus-Vorwurf ist einzuwenden, dass es sich schlicht um die Meinung des Kanzlers handeln könnte. Zweifel an der EU-Tauglichkeit der Türkei besteht immerhin nicht erst seit den scharfen Maßnahmen Ankaras nach dem versuchten Putsch.

Das türkische Strafgesetz wurde 2005 reformiert und an EU-Standards angepasst. Artikel 103 des türkischen Strafgesetzbuches sieht eine Schutzgrenze von Kindern bis 15 Jahre vor. Dabei wird kein Unterschied etwa zwischen Kleinkindern und Teenagern gemacht. Bei sexuellem Missbrauch beläuft sich der Strafrahmen auf acht bis 15 Jahre für erwachsene Täter.

In Österreich liegt das Schutzalter bei 14 Jahren. Bei Geschlechtsverkehr mit Kindern ist eine Freiheitsstrafe von einem bis zehn Jahre vorgesehen. Einfacher sexueller Missbrauch wird nach Paragraf 207 mit sechs Monaten bis fünf Jahre Freiheitsstrafe geahndet. Insgesamt ist das österreichische Gesetz differenzierter in Straftatbestand und Strafmaß.

Strafrecht im Vergleich

Das türkische Strafgesetz wurde 2005 reformiert und an EU-Standards angepasst. Artikel 103 des türkischen Strafgesetzbuches sieht eine Schutzgrenze von Kindern bis 15 Jahre vor. Dabei wird kein Unterschied etwa zwischen Kleinkindern und Teenagern gemacht. Bei sexuellem Missbrauch beläuft sich der Strafrahmen auf acht bis 15 Jahre für erwachsene Täter.

In Österreich liegt das Schutzalter bei 14 Jahren. Bei Geschlechtsverkehr mit Kindern ist eine Freiheitsstrafe von einem bis zehn Jahre vorgesehen. Einfacher sexueller Missbrauch wird nach Paragraf 207 mit sechs Monaten bis fünf Jahre Freiheitsstrafe geahndet. Insgesamt ist das österreichische Gesetz differenzierter in Straftatbestand und Strafmaß.