Vor dem Nato-Gipfel flammt die Diskussion über einen Beitritt der Ukraine zum westlichen Militärbündnis wieder auf.
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Moskau/Brüssel/Washington. Die Stimmung zwischen Russland und der Nato war schon entspannter. Nun droht der nächste Konflikt: Am Freitag hat sich die Regierung in Kiew für eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ausgesprochen. Premier Arseni Jazenjuk will das Parlament bitten, jenen Verfassungsparagrafen zu streichen, der den blockfreien Status des Landes festschreibt. Der scheidende Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen reagierte prompt und schloss einen Nato-Beitritt nicht mehr aus: "Jedes Land hat das Recht, selbständig und ohne Einflussnahme von außen zu entscheiden."
Die Frage des ukrainischen Beitritts dürfte auf dem Nato-Gipfel am 4. und 5. September für Aufregung sorgen. Es droht der nächste Brandbeschleuniger im Verhältnis zu Russland: Diese Woche wurden aus Polen und den baltischen Ländern im Vorfeld des Treffens Forderungen laut, den geplanten Raketenschild des Bündnisses in Europa nicht nur gegen Bedrohungen aus vermeintlichen "Schurkenstaaten", sondern auch gegen Russland auszurichten. Zwar wiesen Medien darauf hin, dass sich die Mehrzahl der Nato-Mitglieder gegen diesen Vorschlag ausgesprochen hätte - aber auch, dass die USA diese Forderungen unterstützen.
Aus Sicht Russlands wäre das keine Strategieänderung des Bündnisses. Die Nato ließe damit nur die Katze aus dem Sack. Moskau versucht seit mehr als zehn Jahren, die Nato von ihrem Vorhaben, in Osteuropa einen Raketenschild aufzubauen, abzubringen. Rasmussens Zusicherungen, der Schild, der 2020 betriebsbereit sein soll, richte sich nicht gegen Russland, sondern gegen den Iran, schenkt man an der Moskwa keinen Glauben. Als der russische Präsident Wladimir Putin in einem Interview mit dieser Behauptung konfrontiert wurde, brach er in Gelächter aus. "Die Geschichte, dass der Iran für die Nato und Europa eine Bedrohung darstellt, ist in der Tat ein dummer Witz", meint der deutsche Sicherheitsexperte Lutz Unterseher. "Die Perser verfügen nicht über Raketen, die einen solch aufwendigen Schild rechtfertigen würden. Dennoch hat die Nato ihre Raketenpläne bis heute nicht ad acta gelegt, auch nach der jüngsten Entspannung im Verhältnis zum Iran nicht", sagt der Politologe der Universität Münster der "Wiener Zeitung".
Nato-Raketenschild als neuer "Krieg der Sterne"
Putin hatte darauf verwiesen, dass die Radar- und Abwehrsysteme der Nato das russische Territorium bis zum Ural abdecken würden. Sie könnten damit auch einen Teil der russischen Nuklearwaffen neutralisieren - eine Behauptung, die die Nato stets bestritten hatte. In Brüssel und Washington verweist man auf die geringe Anzahl an geplanten Raketen, die nie und nimmer in der Lage wären, einen russischen Raketenangriff abzuwehren.
Die Bemühungen der USA, sich selbst und die europäischen Verbündeten gegen anfliegende atomar bestückte Interkontinentalraketen zu schützen, gehen bereits auf die "SDI"-Initiative ("Strategic Defense Initiative") von Ex-Präsident Ronald Reagan zurück. Reagans Konzept vom "Krieg der Sterne" wurde in den 1980er Jahren zwar letztlich nicht realisiert. Es soll aber immerhin den Untergang der UdSSR beschleunigt haben, die mit dem Wettrüsten im Weltraum nicht mehr Schritt halten konnte. In der Endphase der Administration von Bill Clinton wurde das Konzept unter dem Titel "National Missile Defense" (NMD) wieder ausgegraben. Offizieller Zweck: Anfliegende Raketen aus "Schurkenstaaten" zu zerstören.
Es war Clintons Nachfolger George W. Bush, der das Projekt mit allem Nachdruck betrieb. 2002 traten die USA einseitig vom ABM-Vertrag von 1972 zurück, der die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen regelte. Die USA planten die Aufstellung eines Radars in Tschechien und von Raketen in Polen - eine Entwicklung, die die russische Führung beunruhigte, die 1999 und 2004 ohnehin die Erweiterung der Nato bis ins Baltikum hinnehmen musste. Bushs Nachfolger Barack Obama verzichtete 2009 im Zuge seiner "Reset"-Politik mit Russland auf die Installation des Schildes, präsentierte kurz darauf aber eine modifizierte Version mit seegestützten Abwehrsystemen, leichteren Raketen und Basen in Polen und Rumänien - das aktuelle Modell, das 2020 voll funktionsfähig sein soll. Russische Experten halten Obamas "Reset"-Politik deshalb nur für eine Finte.
Das Raketenprojekt der Bush-Administration war einer der Faktoren, die Mitte der Nullerjahre das Verhältnis zwischen Russland und den USA nachhaltig zerrütteten. Putin bot den USA die Nutzung einer russischen Radarstation in Aserbaidschan in unmittelbarer Nähe des Iran für eine gemeinsame europäische Raketenabwehr unter Einschluss Russlands an. Bush lehnte ab. Dmitri Medwedew, Putins kooperationswilliger Nachfolger als Kreml-Chef, startete mehrere Initiativen zur Integration Russlands in das Nato-Projekt, erhielt aber aus Brüssel und Washington nur die Beteuerung, dass man Russland ohnehin nicht bedrohe. Moskau beharrt bis heute auf einer juristisch verbindlichen Zusage, dass sich die Abwehrsysteme der Nato nicht gegen russisches Territorium richten. Die Nato lehnt die Ausstellung eines solchen Dokumentes ab und ist nur zu einer unverbindlichen Erklärung bereit.
Russland drohtmit Erstschlag
In Moskau hat diese Politik des Westens das Vertrauen in die gegenseitige Zusammenarbeit nicht gerade erhöht. Im Kreml fürchtet man, dass die USA das atomare "Gleichgewicht des Schreckens", das seit Anfang der Sechziger Jahre besteht, außer Kraft setzen könnten - zumal das eigene Abschreckungspotenzial seit dem Ende des Kalten Krieges einer Erosion ausgesetzt war, während die USA ihr Arsenal zielstrebig ausbauten und modernisierten.
Dieser Ansicht ist man freilich nicht nur im Kreml. 2006 erschien in der renommierten US-Zeitschrift "Foreign Affairs" ein Artikel mit dem Titel "The Rise of US Nuclear Primacy" über die bald zu erwartende nukleare Vorherrschaft der USA. Die Autoren Ken Lieber und Daryl Press weisen dem Nato-Raketenschild darin eine entscheidende Rolle zu: Zwar stimme die Behauptung, die Abwehrraketen wären nicht entfernt in der Lage, einen massiven russischen Angriff abzuwehren. Das wäre aber auch gar nicht ihre Funktion. Schließlich beruhe das "Gleichgewicht des Schreckens" auf der Zweitschlagsfähigkeit, also darauf, dass dem Zielland eines nuklearen Angriffs immer noch ein - wenn auch kleines - nukleares Arsenal für einen Gegenschlag verbleibt. Und hier käme der Raketenschild ins Spiel. "An diesem Punkt würde selbst ein relativ bescheidenes oder ineffizientes Raketenabwehrsystem ausreichen zum Schutz gegen etwaige Vergeltungsschläge, denn der schwer geschädigte Feind hätte nur noch sehr wenige verbleibende Sprengköpfe", schreiben Lieber und Press.
Tatsächlich hatten USA und UdSSR während des Kalten Krieges stets danach getrachtet, den Rivalen in einem Zug - dem Erstschlag - zu "enthaupten". Es liegt nahe anzunehmen, dass die US-Planstellen die Schwäche des Ex-Rivalen Russland zum zielstrebigen Aufbau der eigenen - auch militärischen - Machtstellung nutzten. Die entsprechenden Konzepte des Pentagon tragen die Namen "Escalation Dominance" - die Fähigkeit, einen Krieg auf jedem Niveau bis hin zum Nuklearkrieg zu gewinnen. Oder "Prompt Global Strike", ein Programm, das Schnellschläge mit nichtnuklearen Präzisionswaffen an jedem Punkt der Erde binnen einer Stunde möglich machen soll.
Die Reaktion Moskaus auf diese Konzepte ließ jedenfalls an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Im Mai 2012 drohte der damalige russische Generalstabschef Nikolai Makarow mit einem "vorbeugenden Erstschlag" gegen die Infrastruktur des Schildes, also mit einem Angriff russischer Kurzstreckenraketen vom Typ "Iskander", die in Kaliningrad stationiert werden sollen, auf die Raketenstellungen in Polen. Ein Rüstungswettlauf entstand: Russland arbeitete in den letzten Jahren fieberhaft an der Herstellung neuer Raketen, die in der Lage sein sollen, jeden gegnerischen Abwehrschild zu überwinden. Im April testete Moskau erfolgreich die moderne Rakete RS-24 Jars, die von mobilen Rampen abgeschossen wird. Sie ist in der Lage, ihre Flugbahn zu ändern und soll die Nato-Abwehr überlisten können. Im Juni kündigte der Kreml die Entwicklung einer neuen ballistischen Interkontinentalrakete an, die "praktisch jegliche" Abwehrsysteme überwinden könne.
Kontrolle über das"Herzland" Eurasien
Ein Hintergrund dieser neuen Konfrontation könnte auch sein, dass - im Gegensatz zur Situation in Mitteleuropa - geostrategisches Denken in Russland wie den USA einen hohen Stellenwert genießt. In Moskau hat man Zbigniews Brzezinskis Buch "The grand chessboard" aus den 1990er Jahren gelesen, in dem der renommierte US-Geostratege dem Kampf um die Vorherrschaft in Eurasien einen entscheidenden Platz einräumt - und in dem er einem Russland, das auf die Ukraine verzichten muss, den Status eines mächtigen Reiches abspricht. Brzezinski bezieht sich in seinen Konzepten auf Halford Mackinder, einen britischen Geopolitiker aus der Zeit des Imperialismus, der in der Kontrolle über das "Herzland" Eurasien den Schlüssel zu globaler Macht und Größe sah - und in Russland den gewissermaßen "natürlichen" Rivalen der Seemächte Großbritannien und USA. Brzezinski empfiehlt den USA, das Aufkommen eines Rivalen in Eurasien zu verhindern. Umgekehrt ist es Ziel Russlands, den US-Einfluss in Europa zu minimieren. Das Werben um den alten Kontinent gleicht einem Kampf, der mit harten Bandagen ausgefochten wird.