Im Kampf der Ukraine gegen Russland tobt eine im 21. Jahrhundert beispiellose Propagandaschlacht. Geführt wird sie mit so ungleichen wie teils problematischen Mitteln.
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Es war streng genommen nichts Neues, was der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in der elften Kriegswoche zu verkünden hatte. An Eindringlichkeit ließ seine Botschaft trotzdem nichts zu wünschen übrig. Was im Kampf gegen die Invasoren auf dem Spiel stehe, sei nicht nur das Schicksal des Landes, sondern das des Westens; wenn es nicht gelinge, die Russen zurück in ihr Land zu treiben, wären als Nächste Estland, Lettland, Litauen und Polen dran. Entsprechend brauche die Ukraine dringender denn je Hilfe in Form von Waffen und Geld.
Auch wenn Selenskyj diesen Appell seit dem 24. Februar zum gefühlt x-ten Mal wiederholte, hat sich sein Hintergrund dank der Situation am Boden wie in der Luft verändert. Die Einnahme von Metropolen wie Kiew, Charkiw und Odessa scheint heute für Russland in weiter Ferne. Zu verdanken ist dieser angesichts der russischen Kriegsziele beachtliche Erfolg aber nicht nur der außerordentlichen Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Streitkräfte, sondern auch einer so patriotischen wie effektiven PR-Kampagne, die nicht trotz, sondern vielleicht gerade wegen ihrer Unkoordiniertheit und ihres - teilweise problematischen - Ideenreichtums eine kaum zu unterschätzende Wirkung entfaltet.
Martialische Ästhetik
In der Ukraine selbst stellen die Ansprachen von Staatsoberhaupt Selenskyj, bevorzugt dargebracht in Form von kurzweiligen Videoclips mit Selfie-Charme, nur einen kleinen, wenn auch nicht zu vernachlässigenden Teil dieser Kampagne dar. Wer heute durch die Straßen einer beliebigen ukrainischen Stadt spaziert, stößt dort ebenso an allen Ecken auf die bisweilen seltsamen Blüten, die sie treibt, wie in den sozialen Medien. Die Palette reicht von Smartphone-Schutzhüllen mit unzweideutigen Botschaften ("Slava Ukraini", "Putin is a B***") über Duftkerzen und Räucherstäbchen in den Nationalfarben bis zu im Do-it-yourself-Verfahren designten und gedruckten T-Shirts und Handtüchern, auf denen der Untergang von Russlands Flaggschiff "Moskva" gefeiert wird.
Nichts von all dem geht auf Regierungsinitiativen oder sonst irgendwie von oben verordnete Propaganda zurück. Deren Speerspitze bilden die offiziellen Militärkanäle, die auf praktisch jeder relevanten virtuellen Plattform vertreten sind. Auf ihnen werden mehrmals täglich Inhalte kämpfender Truppen unter die Leute gebracht, die in ihrer martialischen GoPro-Ästhetik professionellen Videospiel-Produktionen in nichts nachstehen.
Bei vielen Videos, die heute in der Ukraine viral gehen, handelt es sich aber nicht um Aufnahmen vom Kampfgeschehen. Auf einschlägigen Telegram-Kanälen, WhatsApp-Gruppen und auf Youtube werden Clips, ja manchmal halb- bis einstündige Filme verbreitet, die zwar die gleiche Botschaft transportieren - die existenzielle Bedeutung des Kampfs gegen die Besatzer -, aber ungleich subtiler wirken. In nämlichen wird etwa das Leben der Familie eines jungen Kriegsgefangenen vor und nach der Invasion nachgezeichnet, das russische Realitäten wie Alkoholismus, Armut und Korruption offenbart und die offensichtliche Ahnungslosigkeit vieler Soldaten Putins, was sie in der Ukraine eigentlich machen. Wiewohl faszinierend anzusehen eine fragwürdige Praxis: Die Aufnahmen, eingebettet in eine karge Rahmenerzählung, stammen aus dem Smartphone des gefangenen Soldaten.
Abseits aller Regeln
Entsprechend unwahrscheinlich ist es, dass er - wie andere russische Kriegsgefangene, deren intimste Momente heute für jeden sichtbar im Internet kursieren - die Zustimmung freiwillig gegeben hat, das Material zu verwenden. Die Macher derartiger "Dokumentationen", die heute in- und außerhalb der Ukraine von Millionen Menschen angeklickt und manchmal sogar von Regierungsvertretern und Diplomaten geteilt werden, verteidigen diese eklatanten Verletzungen der Persönlichkeitsrechte damit, dass sich die Gegenseite noch nie an Regeln gehalten hat. Ein Argument, dass zumindest im Land selbst weitgehend verfängt.
Tatsächlich lassen die Kommentare im russischen Staatsfernsehen keinen Zweifel über die geistige Verfasstheit der Invasoren. Die Existenz einer genuin ukrainischen Identität sei eine Illusion, die Menschen zwischen Charkiw und Odessa werden von ihnen wahlweise als Nazis, Anti-Christen oder generell als "Untermenschen" gebrandmarkt. Inwiefern dieser Irrsinn die Praxis rechtfertigt, das Privatleben russischer Kriegsgefangener mehr oder weniger systematisch öffentlich breitzutreten, scheint trotzdem eine Debatte wert.