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Gefangen in der Projektion

Von Gerhard Lechner

Leitartikel
Gerhard Lechner ist Außenpolitik-Redakteur der "Wiener Zeitung".

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Wladimir Putin ist eine Art Popstar der internationalen Politik. In Russland wird der wiedergewählte Präsident als Symbol der Stärke des zuvor gedemütigten russischen Staates verehrt. Und jenseits der Grenzen ist es dem geschmeidigen Petersburger in seinen 18 Jahren an der Staats- oder Regierungsspitze gelungen, die ursprünglich recht schmalen Handlungsspielräume Russlands in der internationalen Politik erheblich zu verbreitern. Seine Pose des Rebells gegen die vom Westen geprägte Weltordnung kommt nicht nur in Russland, sondern in weiten Teilen des Planeten an, wo man sich Respekt vor allem durch zur Schau gestellte Stärke erarbeiten muss.

Das Putinbild im Westen sieht bekanntlich anders aus. Düsterer. Vor allem von der westlichen Presse wird der russische Präsident als Regelverletzer angesehen – nicht nur durch die Annexion der Krim, sondern auch durch seine offen zur Schau gestellte Machopose und seine betont konservative Gesellschaftspolitik, mit der er die liberalen westlichen Eliten herausfordert.
Das war nicht immer so. Noch in seiner ersten Amtszeit galt Putin als "Westler", als einer, dessen Hauptanliegen - getreu seinem Vorbild Peter dem Großen – die Modernisierung des rückständigen Russlands war (freilich auf autoritärem Weg). Etliche Konflikte später wandelte sich Putin zu einem Gegner des Westens, zu einem, der dem liberalen "Gayropa", wie es in Moskau heißt, mit der Orthodoxen Kirche im Rücken eine gesellschaftspolitische Alternative aufzuzeigen vermag.

Und das kommt an. Während die linksliberal geprägte Presse im Westen Putin zum "Feind der Welt" hochjazzte, finden Konservative und Rechte Gefallen an dem Petersburger Machtpolitiker. Die Person Putin – das Schimpfwort "Putinversteher" zeugt davon – ist im Westen ein relevantes Politikum. Für die einen ist Russland ein schrecklich rückständiges, reaktionäres und autoritäres Land, das durch seine Rüstung den Westen bedroht, für die anderen eines der wenigen europäischen Länder, die sich der Selbstauflösung durch Werteverfall und Einwanderung entgegenstemmen – und außerdem Opfer einer aggressiven westlichen Politik.

Neu ist all das übrigens nicht. Russland war immer schon Spaltpilz und Projektionsfläche für europäische Träume oder Alpträume. Europäische Konservative sahen im 19. Jahrhundert den Zaren als Hüter der europäischen Friedensordnung, während Linke und Liberale in ihm nur einen besonders autoritären Zwingherrn erkennen konnten, der noch dazu in jenem Osten hauste, von wo mindestens seit den Hunnenstürmen das Unheil schon oft über Europa gekommen war. Der französische Historiker Jules Michelet, kein Freund Russlands, schrieb 1854: "Solcherart ist die russische Propaganda, unendlich variierend, je nach den Völkern und den Ländern. Gestern sagte sie uns: Ich bin das Christentum. Morgen wird sie uns sagen: Ich bin der Sozialismus."

Tatsächlich spielte auch die im Vergleich zum Zarenreich ungleich brutalere Sowjetunion die Rolle als Projektionsfläche Europas. Diesmal stellte das Riesenreich im Osten für Konservative die ultimative Bedrohung dar, während sich linke Fortschrittsfreunde oft an den Plänen zum Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft ergötzten – über die bedrückende Realität von Terror und Massenmord hinweg. Dieser kommunistische Traum zerstob 1991 endgültig und hinterließ ein Land, dessen blutende Wunden nur wenig Platz zum Träumen ließen. Dennoch fand Russland in der dritten Amtszeit Putins zu seiner Rolle als Heilsbringer, als Alternative zum vermeintlich heruntergekommenen und dekadenten Westen zurück.
Es ist wohl die Mischung aus gemeinsamen Wurzeln und unterschiedlichen Wegen, die Russland und den Westen aneinander ketten und zugleich voneinander trennen. Beide Zivilisationen sind ursprünglich christlich und sich damit nicht grundsätzlich fremd. Dennoch wirkt die Trennlinie zwischen Rom und Byzanz, mit vielen historischen Konflikten beladen, bis heute nach. Man ist aufeinander bezogen, verwandt, hat aber dennoch nicht dieselben Traditionen. Auch für Russland spielt der Westen abwechselnd die Rolle des Heilsbringers oder der großen Bedrohung, etwa im "Großen Vaterländischen Krieg", als sich das Land gegen seine geplante Auslöschung durch Hitler zur Wehr setzte. Auch in Putins vierter Amtszeit wird der Westen als Gefahr wahrgenommen werden – abgesehen von dem Grüppchen der russischen Liberalen, die sehnsüchtig ins gelobte Europa und die USA blicken, die in Russland politisch aber niemals mehrheitsfähig sein werden.

Die Wirklichkeit in Russland sieht abseits solcher Projektionsflächen oft prosaischer aus. Weder ist Putins Führungsmannschaft eine musterhaft christliche Elite, die dem schwarz gezeichneten Brüsseler Moloch entgegensteht, noch ist der russische Herrscher ein blutsaugender Homosexuellenschlächter – vom muslimischen Tschetschenien, in dem sein Günstling Ramsan Kadyrow die Fäden zieht, einmal abgesehen. Eher handelt es sich um eine korrupte Oligarchie weniger Superreicher, der es allerdings gelungen ist, die wilde Oligarchie der 1990er Jahre zu zähmen und so wieder halbwegs normale Verhältnisse herzustellen. Zum Träumen und zu Projektionsbildern lädt all das freilich nicht ein.