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Die deutsche Strafrechtlerin Petra Velten erklärt im Interview was im Akademikerballprozess gegen Josef S. falsch gelaufen ist.
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Wien. "Schuldspruch aus Mangel an Beweisen", titelte der Hamburger Spiegel. "Ein Zeuge reicht", die Berliner taz und "Im Zweifel gegen den Angeklagten", die Sächsische Zeitung. Die deutschen Medien sind sich einig: Das Urteil des Wiener Landesgerichts gegen den deutschen Studenten Josef S. ist ein Skandal. Zwölf Monate Haft, acht Monate bedingt, verkündete der Richter Dienstagnachmittag gegen den 23-jährigen Mann aus Jena, der maßgeblich an den Ausschreitungen in der Nacht des Akademikerballs involviert gewesen sein soll. Nach sechs Monaten Untersuchungshaft wurde Josef S. wegen Landfriedensbruch, schwere Körperverletzung, schwere Sachbeschädigung verurteilt. Die Verteidigung hat Berufung eingelegt.
In derselben Woche wurde ein ähnlicher Fall ein paar Räume weiter vor dem Wiener Landesgericht verhandelt. Am vergangenen Mittwoch standen 29 Rapidfans wegen Ausschreitungen nach einem Freundschaftsspiel auf der Anklagebank. Auch ihnen wurde Körperverletzung, Sachbeschädigung und Landfriedensbruchs vorgeworfen. Im Gegensatz zu Josef S. bekannten sich hier zwei der Angeklagten zu sämtlichen Anklagepunkten schuldig. Ihr Urteil: Drei Monate bedingt. Die deutsche Strafrechtlerin und einstige Strafverteidigerin Petra Velten beleuchtet im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" die Tücken des heimischen Justizsystems.
Wiener Zeitung: Frau Velten, wie erklären Sie die Diskrepanz dieser beiden Urteile: Hier ein paar Fußballfans - die gestehen, dass sie die Polizei mit Glasflaschen und Heurigenbänken beworfen haben - bekommen drei Monate bedingte Haft. Dort ein Demonstrant, der sich nicht schuldig bekennt, keine Vorstrafen hat und von einem einzigen Zeugen belastet wird, der sich in Widersprüche verstrickt, bekommt zwölf Monate. Was läuft hier falsch?
Petra Velten: Die erste Erklärung ist: Rapid ist Lokalkolorit, es gehört zu Wien und Österreich. Autonome gelten schon eher als Feinde und "verdienen" als solche keine wohlwollende Behandlung. Ihnen wird gezeigt: Ihr steht außerhalb der Gesellschaft. Wir nennen das Feindstrafrecht. Eine zweite Erklärung ist die, dass in unserem Strafverfahren Geständnisse - selbst wenn sie nicht von Reue getragen, sondern taktischer Natur sind - mit mindestens einem Drittel Strafnachlass honoriert werden. Auch das ist nicht schön, es heißt nämlich umgekehrt, dass die Ausübung des Schweigerechts bestraft wird.
Was war Ihre erste Reaktion zu dem Urteil gegen Josef S.?
Ich war ziemlich bestürzt als ich von dem Urteil gehört habe. Es zeigt, dass ein Mangel an rechtsstaatlicher Distanz festzustellen ist.
Was meinen Sie damit?
Dieser Prozess führt an einen der heikelsten Punkte unseres Strafverfahrensrechts. Und zwar an den Grundsatz der freien Beweiswürdigung.
Das bedeutet, dass Richter nach ihrer freien Überzeugung entscheiden, ob sie etwas als bewiesen ansehen oder nicht.
Richtig. Früher folgte man bestimmten Beweisregeln, zum Beispiel brauchte man mehrere Augenzeugen oder ein Geständnis für eine Verurteilung. Das war nicht immer praktikabel, weil es dazu verleitet hat, dass die Angeklagten zu Geständnissen gezwungen wurden. Heute ist das anders.
Der Richter hat viel mehr Macht.
Dieser Prozess hat gezeigt, was die Kehrseite der freien Beweiswürdigung ist. Sie bringt eine große Verantwortung mit sich und birgt die Gefahr von Missbräuchen. In der Praxis sehe ich immer wieder, dass das Gericht einen falschen Maßstab ansetzt: und zwar, dass es schon den Richtigen trifft. Unter uns Juristen nennen wir das die "Schweinehundtheorie".
Was besagt die?
Sie besagt: Der Angeklagte war es höchstwahrscheinlich, und wenn er es nicht war, dann trifft es auch keinen Falschen. Das ist die falsche Maxime. Wenn man sich die Beweiswürdigung bei dem aktuellen Fall anschaut, dann hat man schon den Verdacht, dass nach der Schweinehundtheorie vorgegangen wurde, vor allem wenn es in der Urteilsbegründung des Richters heißt: "So naiv sind Sie nicht. Sie werden schon etwas getan haben, wenn sie an vorderster Reihe beim schwarzen Block stehen."
Woran erkennt man, dass nach dieser Maxime gearbeitet wird und welche Kontrollmechanismen gibt es, um das zu verhindern?
Dafür haben wir die Öffentlichkeit. Was man bei Prozessen ganz selten hat, ist, dass die Mehrheit der Prozessbeobachter hier das Gefühl hatte, dass etwas eklatant schief läuft. Das kann man auch in der Art der Beweiswürdigung sehen. Wir haben nur einen Zeugen und der widerspricht seiner eigenen Aussage. Auch in der Begründung des Gerichts hat man das gesehen: Alle Punkte, die für den Angeklagten gesprochen hätten, wurden so gedreht, dass sie das Urteil stützen.
Wie beurteilen Sie das Strafmaß? Hatte das Gericht keine andere Wahl nach einer derartig langen Untersuchungshaft?
Das kann sein. Es ist eine der Gefahren der U-Haft, dass man das Urteil dem annähert, was an der U-Haft schon verbüßt wurde.
Die U-Haft galt mit sechs Monaten als unverhältnismäßig.
Das stimmt. Warum hat man den Rapid-Verdächtigen mit Fußfessel herausgelassen, Josef S. aber nicht? Vieles spricht dafür, dass "apokryphe Haftgründe", also eine Art Etikettenschwindel dahinter steckt. In Wirklichkeit scheint es mir, dass es eine Art Machtdemonstration war. Man wollte zeigen, wo der Hammer hängt. Die Strafe soll der Tat auf dem Fuße folgen. Ein solcher Missbrauch der U-Haft als vorgezogene Strafe ist mit der Unschuldsvermutung nicht vereinbar. Die U-Haft ist ultima ratio zur Absicherung dessen, dass ein Strafverfahren stattfinden darf.
Viele hat beim Prozess die martialische Sprache des Staatsanwalts irritiert. Ist so eine Sprache Usus in den heimischen Gerichtssälen?
Das Prozessrecht verbietet es ganz klar solche Polemiken zu verwenden. Wir haben einen Inquisitionsprozess, keinen Parteiprozess. Das heißt, sowohl das Gericht als auch die Staatsanwaltschaft müssen beide objektiv sein und sind der Wahrheitsfindung verpflichtet. Sie müssen sich auch um die entlastenden Beweise kümmern. Es ist nicht nur unschön, was im aktuellen Prozess passiert ist, sondern es passt auch nicht zum Geist des Prozessrechts.
Die Urteilsbegründung fußt zum Großteil auf den Aussagen eines einzigen Belastungszeugen, eines Polizisten, der sich immer wieder widersprochen hat. Wiegt die Aussage eines Polizisten mehr als die eines anderen Zeugen?
Nein, auf keinen Fall. Wir haben da verschiedene Kriterien der Beweiswürdigung - zum Beispiel: wie glaubwürdig ist der Zeuge - die gelten für alle Zeugen gleich.
Das ist die Theorie. Und wie sieht die Praxis aus?
In der Praxis ist es so, dass da vielleicht nicht gleich gewürdigt wird.
Warum?
Man kann sagen, dass das ein Beweiswürdigungskritierium sein könnte, weil ein Polizist bei Falschaussage mit disziplinarischen Maßnahmen zu rechnen hätte. Aber das ist nur dann der Fall, wenn ernsthaft eine Verfolgung im Falle eines Verstoßes drohen würde.
Lügen vor Gericht hat in der Praxis also kaum Konsequenzen?
Die Frage ist, wie wahrscheinlich mir das nachgewiesen werden kann und das ist minimal. Eine versehentlich falsche Erinnerung ist folgenlos. Die Folgen von Falschaussagen darf man nicht überschätzen.
Der Prozess wurde vielerorts als grotesker Schauprozess wahrgenommen, die eine bestimmte Ideologie der Justiz gegenüber Gruppierungen widerspiegelt, die den Staat herausfordern. Welche Instrumente gibt es um eine ideologisch gefärbte Justiz zu domestizieren?
Österreichs Justiz braucht Feedback, und zwar systematisch. Das ist eine Aufgabe, die die Presse wahrnehmen kann. Es wäre aber auch eine lohnende Aufgabe für die Universitäten. Die Justiz muss sich einen Spiegel vorhalten lassen und darf sich nicht gegen Kritik immunisieren. Es ist nicht unter der Würde der Justiz, wenn sie sich Kritik anhört und damit auseinandersetzt.
Dass das in Österreich anders gehandhabt wird, haben Sie selbst beim Tierschützerprozess erlebt (Anm. Tierschutzaktivisten standen vor Gericht, mit dem Vorwurf eine kriminelle Organisation gegründet zu haben.) Sie haben damals den Verhandlungsstil der Richterin kritisiert, woraufhin Ihnen prompt mit einer Klage wegen übler Nachrede gedroht wurde.
Man wollte das strafrechtlich verfolgen, aber es hat dann kein Verfahren gegeben. Wenn man aus Deutschland kommt, ist man verblüfft. Es ist ganz üblich, dass man bei uns die Justiz kritisiert. Wenn man hier in Österreich Kritik an der Justiz äußert, wird das nicht als normal angesehen, sondern als eine Art Sakrileg.
Petra Velten leitet seit 2007 das Institut für Strafrechtswissenschaften an der Johannes Kepler Universität Linz.