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Gefangene Radikale

Von Simon Rosner

Politik

In Österreichs Gefängnissen passiert islamistische Ideologisierung, doch es mangelt an deradikalisierender Seelsorge.


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Wien. Die schiefe Bahn kann auch direkt nach Syrien führen. Diese Erfahrung hat Ramazan Demir gemacht, ein islamischer Religionslehrer, der ehrenamtlich als Seelsorger in Justizanstalten tätig ist. Er erzählt von einem 19-Jährigen, den die schiefe Bahn zunächst einmal ins Gefängnis gebracht hat. Probleme mit der Familie, falsche Freunde, dazu kamen dann ein paar Drogen und eine Polizeikontrolle. Eine Haftstrafe bedeutet allerdings noch mehr Perspektivenlosigkeit und noch weniger zu verlieren.

"Er wollte nachher sofort nach Syrien", sagt Demir, der vier Einzelsitzungen mit dem Inhaftierten hatte. "Das hat geholfen, er will nun definitiv nicht mehr dorthin." Der Häftling war kein Salafist, er hatte nicht einmal viel Wissen über den Islam und den Koran, doch genau das machte ihn in Kombination mit seiner Biografie und der tristen Lebenssituation so anfällig für wirre Ideen. Viele IS-Sympathisanten und Dschihadisten sind religiöse Analphabeten.

Demir erzählt noch etwas anderes. Er erzählt von einem Berg voller Zettel mit Ansuchen, aus denen er immer nur ein paar ziehen könne. In ganz Österreich gibt es derzeit 1700 muslimische Häftlinge, insgesamt sind derzeit 8700 Personen inhaftiert. Doch es gibt genau null Stellen für islamische Seelsorger, sie sind also lediglich ehrenamtlich tätig und erhalten maximal eine geringe Aufwandsentschädigung. Vor allem sind sie oft nicht verfügbar, wenn sie angefragt werden.

Keine Planstellen

Ismail Ozan, der Präsident des Vereins der islamischen Seelsorge, fordert deshalb fixe Stellen, nicht viele, drei oder vier, um eine bessere Betreuung zu ermöglichen. Im neuen Islamgesetz, das heftig diskutiert wird, ist zwar das Recht auf islamische Seelsorge festgeschrieben, im Entwurf heißt es aber: "Ein Mehrbedarf an Planstellen und Finanzmitteln ist nicht zu erwarten."

Dem widerspricht Ozan, der ebenfalls als Seelsorger in Salzburger Justizanstalten arbeitet. "Was ist, wenn wir nicht mehr können", fragt er, natürlich rhetorisch, doch es offenbart eine gewisse Unlogik im Gesetz. Einerseits räumt der Gesetzgeber das Recht auf Seelsorge ein, andererseits macht er sich gänzlich von der Freiwilligkeit von Vereinsmitgliedern abhängig.

"Wir kennen den Wunsch, und es ist auch klar, dass es hier ein Ungleichgewicht gibt", sagt Peter Prechtl, der Leiter der Vollzugsdirektion. Die katholische Kirche hat sechseinhalb Planstellen, zudem werden kirchliche Seelsorger auch von Diözesen bezahlt, die Nachfrage ist auch bei christlichen Religionen groß. "Inhaftierte suchen nach Halt und finden ihn oft in der Religion", sagt Ramazan Demir. Und Oberstleutnant Manfred Ulrich von der Justizanstalt Jakomini in Graz ergänzt: "Die Leute werden ruhiger und überstehen die Haft besser, das merken wir schon."

Verfassungsschützer warnen

Bei Muslimen gibt es neben dem seelsorgerischen aber noch einen sicherheitspolitischen Aspekt. Im aktuellen Bericht des Verfassungsschutzes werden Justizanstalten explizit als "kritische Orte und potenzielle Nährböden für Radikalisierungsvorgänge" genannt. Gefängnisse "werden von ideologisierten Extremisten auch als Rekrutierungsräume genutzt". Aus diesem Grund werden Justizbeamte seit rund einem Jahr auch geschult, ein Abdriften in Extremismus frühzeitig zu erkennen. Aber dann?

Es ist mittlerweile gesichert, dass die beiden mutmaßlichen Paris-Attentäter Cherif Kouachi und Amedy Coulibaly Kontakt im Gefängnis hatten. Und auch Mohamed Merah, der bei drei Attentaten im März 2012 im Großraum Toulouse sieben Menschen erschoss, war zuvor in Haft, ebenso Mehdi Nemmouche, der das Attentat auf das Jüdische Museum in Brüssel im März verübte.

"Jeder sagt, dass Radikalisierung im Gefängnis stattfindet. Und sie haben recht", sagt Ramazan Demir. "Man spart hier wirklich an den falschen Stellen, denn Radikale sind eine Gefahr für die gesamte Bevölkerung." Auch Prechtl sieht nach den Anschlägen von Paris akuten Handlungsbedarf. "Wir sind noch in der Überlegungsphase, aber die Infektion innerhalb der Anstalt ist ein wichtiger Punkt." In den kommenden Tagen ist deshalb auch ein Termin mit der islamischen Seelsorge angesetzt.

Ist der radikale Gedanke implementiert, ist theologisches Know-how gefragt, zumal auch dann der Zugang für Nicht-Muslime, Sozialarbeiter oder Justizwachebeamte schwieriger wird. Nun kommt das Problem hinzu, dass in den kommenden Jahren vermutlich auch einige zurückgekehrte IS-Kämpfer inhaftiert werden, sie haben ideologisierendes Potenzial.

Justizressort gesprächsbereit

Derzeit sitzen zwölf mutmaßliche Islamisten in österreichischen Gefängnissen, darunter auch ein Prediger aus Wien, der ein Hauptideologe des dschihadistischen Islamismus sein soll. Er ist mit drei weiteren Personen in Graz-Jakomini in Untersuchungshaft. "Sie sind einzeln untergebracht und kommen auch mit anderen nicht zusammen", erklärt Ulrich. Doch komplett verhindern könne man Kontakte, etwa beim Hofgang, nicht. Um Seelsorge haben die mutmaßlichen Islamisten bisher nicht angesucht, in diesen Fällen ist es aber auch schwierig, deradikalisierend einzuwirken. "Versuchen kann man es", sagt Demir.

Im Justizministerium will man sich dem Thema annehmen und betont die "guten Gespräche mit der Glaubensgemeinschaft". Bei der Schaffung von Planstellen ende aber die Zuständigkeit des Justizressorts, die Zuweisung erfolge durch das Bundeskanzleramt, heißt es. Allerdings könnten für die islamische Seelsorge auch Stellen bei der Justizbetreuungsagentur geschaffen werden, dafür wäre das BKA nicht notwendig. Klar dürfte aber sein, dass das Justizministerium für diese Stellen budgetär aufkommen müsste. Angesichts von insgesamt 3800 Bediensteten im Strafvollzug scheint der Wunsch nach ein paar Stellen nicht unerfüllbar.