Zum Hauptinhalt springen

Gefängnis Europa

Von Valentine Auer

Politik

Abseits von platten Parolen bieten zwei Autorinnen Einblick in den Zusammenhang zwischen Migration und Gefängnissen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Wien. "Ich spreche immer von zwei Gefängnissen, vom kleinen und vom großen Gefängnis. Ins kleine Gefängnis kommt man, wenn man Dummheiten macht, man findet sich dort, um dafür zu zahlen. Das große Gefängnis, das ist vor allem für Sans Papiers und Harraga (Einwanderungswillige aus Nordafrika, Anm.) ganz Europa. Meine Frage lautet: In welchem der beiden Gefängnisse lebt es sich schwieriger?" Diese Frage stellt Simo Kader in einem Gespräch mit Simon S. Beide sind Migranten aus Afrika. Kader ist seit zehn Jahren in Europa. Aufenthaltstitel hat er nach wie vor keinen. Mit ein Grund dafür: Er hat etwa sechs Jahre seines Lebens in Gefängnissen verbracht.

Übersetzerin und Aktivistin Birgit Mennel sowie Politikwissenschafterin Monika Mokre verbinden im gemeinsam herausgebrachten Sammelband "Das große Gefängnis" die zwei Themenkomplexe Migration und Gefängnis - und das abseits von Stammtischparolen à la "Ausländer sind alle kriminell". Vielmehr bewegen sich die Beiträge um die These, dass die Rahmenbedingungen des großen Gefängnisses - also jene Rahmenbedingungen, die Migranten in Europa vorfinden - eine Basis sein können, um im kleinen Gefängnis zu landen.

Die Stimmen, die sich dazu äußern, könnten unterschiedlicher nicht sein: So verstrickt das Werk theoretische Annäherungen mit Erfahrungsberichten von Betroffen und mit gesellschaftskritischen Betrachtungen aus der Perspektive politischer Aktivisten. Bereits veröffentlichte Texte reihen sich ein in erstmals publizierten Gespräche und erhalten so ein neues Gewand. Auch hinsichtlich der anhaltenden politischen, medialen, aber auch (zivil-)gesellschaftlichen Asyldebatten ist das Thema brandaktuell und schafft so einen erweiterten Rahmen.

Die Verbindung Migration und Kriminalität ist keineswegs neuartig. Der älteste Text des Sammelbandes stammt von Félix Guattari aus dem Jahr 1976. Er zeigte damals auf, dass die Gefängnisse als geeignete Institution geführt werden, welche das "Andere" nicht nur registrieren, sondern auch kontrollieren können. Die Schuld immigrierter Personen basiere weniger in den kriminellen Handlungen, sondern "auf ihr Sein als solches". So ist es gerade einer der Verdienste des Buches, den Glauben daran, dass das Gefängnis immer mit Kriminalität einhergeht, zu entlarven - vor allem im Bereich der Migration.

Der Philosoph Pierre Tevanian und der Soziologe Abdelmalek Sayad sprechen diesbezüglich von "Hyperkorrektheit". Es wird "mit zweierlei Maß" gemessen, wenn es um das geht, was in den europäischen Nationalstaaten als korrektes Verhalten verstanden wird.

Egal ob es um sexistische Äußerungen, um intolerantes Verhalten oder um kriminelle Handlungen geht: Während Europäer ohne Migrationshintergrund, die sich bei diesen Taten ertappen lassen, als Einzelfälle oder ihre sexistischen Witze als platt oder "eh lustig" abgetan werden, geht man bei Migranten eher davon aus, dass ihr Verhalten kultur-, religions oder gesellschaftsimmanent sei. Die Augen sind gerichtet auf ihre Handlungen, die darauf folgende Bestrafung wiegt doppelt. Dies, so Tevanian, sei die alltäglichste Form von Rassismus.

Mit den Augender doppelt Bestraften

Von dieser Doppelbestrafung erzählen auch die Beiträge (ehemaliger) inhaftierter Migranten. Said Musafir versuchte mit 14 Jahren das erste Mal, vom Maghreb nach Europa zu kommen. Es folgten zahlreiche weitere Versuche. Mittlerweile lebt er seit 20 Jahren in Europa. Er schlägt sich mit jener Arbeit durch, die Menschen ohne Papieren offensteht - illegaler. Drei Jahre verbrachte er daher in Gefängnissen. Die Verbindung zwischen Gefängnis und Migration wurde ihm schneller bewusst, als ihm lieb war: "Das wusste ich schon, als ich noch sehr jung war: ein Fuß draußen, einer drinnen". Auch dem 29-jährigen Oujdi ist dieser Teufelskreis bewusst: Es gibt weder Arbeits- noch Wohnungsmöglichkeiten. Die Folge: "Du wirst zum Kriminellen, um für dich zu sorgen."

Oder der "Mann mit dem negativen Bescheid" - er will anonym bleiben und erzählt von einem anderen Gefängnis: der Erstaufnahmestelle Traiskirchen. Die einzige Schuld, die er begangen hat, um dort zu landen, war seine Flucht nach Österreich: "Sie nehmen uns einfach alle fest, sperren uns im Lager ein und das Einzige, was man darf, ist essen und schlafen. Ansonsten gibt es gar nichts." Seit 20 Jahren kämpft er in verschiedenen EU-Beitrittsstaaten um einen legalen Aufenthaltsstatus. Bisher vergeblich.

Zum Schluss wirft das Buch einen kritischen Blick auf den Gefängnis-Industrie-Komplex. Am Beispiel der USA zeigt die Aktivistin Angela Davis im Gespräch mit Soziologin Avery Gorden auf, dass die Inhaftierung soziale Probleme zum Verschwinden bringen, eine Art "Wundertat" erfüllen solle. Doch Gordon erinnert daran, dass nicht die Probleme verschwinden, sondern Menschen: "Und so wurde die Praxis, eine enorme Zahl von Menschen aus armen, migrantischen und aufgrund von Rassisierung marginalisierten Communities verschwinden zu lassen, buchstäblich in ein großes Geschäft verwandelt." Ein Industrie-Komplex, dessen Insassen in den USA zu 70 Prozent schwarz sind.

Und doch, laut Simon S. ist das wahre Gefängnis die Migration selbst. Er lebt seit zwei Jahren in Österreich, mittlerweile mit legalisiertem Aufenthalt: "Das Leben im großen Gefängnis ist schwieriger. Beim kleinen Gefängnis weißt du, was dich erwartet, wenn du bei etwas erwischt wirst, was du nicht machen sollst. Aber im großen geht’s nicht darum, etwas Falsches zu tun, sondern darum, wer du bist. Es geht um Migration und um die Suche nach einem besseren Leben."