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Wien. Er verkauft die Obdachlosenzeitung "Augustin" vor dem Eingang des Supermarkts und begrüßt die Eintretenden freundlich. Fragt man ihn nach seinem Leben, erzählt er in gebrochenem Deutsch, dass er aus politischen Gründen mit seiner Familie aus Georgien geflohen sei und nun in Wien wohne. Dass er die Obdachlosenzeitung verkauft, obwohl er eine Wohnung hat, liege daran, dass er keine Arbeitsgenehmigung besitze. So könne er seine Familie unterstützen, ohne sich der Illegalität schuldig zu machen.
Die Einkaufenden überprüfen nicht, ob die Geschichte stimmt. Viele kaufen ihm einen "Augustin" ab, ebenso viele tun es nicht. Zur Geldspende gehört das Gespräch in gebrochenem Deutsch. Nicht alle lassen sich darauf ein. Manche aber unterstützen nur ihn und keine anderen "Augustin"-Verkäufer. Manchmal ist er betrunken, manchmal müde, manchmal traurig. Aber nie zeigt er sich schlecht gelaunt.
Soll man Bettlern Geld geben? Für Hilfsorganisationen spenden? Zu weinen beginnen, wenn man an die Hungernden der Welt denkt? Dass wir es nicht immer tun, ist schon aus reinem Selbstschutz völlig normal. "Unterlassene Hilfestellung ist ein Teil des Alltags", sagt der US-Psychologe Daryl Cameron von der University of North Carolina. Bringen die Nachrichten einen Bericht über eine Hungerkatastrophe in einem fernen Land, wechseln wir das Programm. "Menschen unterdrücken Mitgefühl, wenn sie mit Massenleid konfrontiert sind", so Cameron. Ihm zufolge hat die aufgesetzte Gefühlskälte jedoch ihren Preis.
In der Psychologie gilt Mitgefühl oder die Fähigkeit, sich in jemanden hineinzuversetzen, als Grundpfeiler für moralisches Empfinden. "Mitgefühl ist eine derart starke Emotion, dass sie ein moralisches Barometer ist", sagt der Psychologe. Wer es unterdrückt - sei es aus Selbstschutz oder aus reinem Eigeninteresse -, opfert dabei seine Moral.
Cameron und sein Kollege Keith Payne haben 100 Studenten insgesamt 15 Bilder von leidenden Personen vor Augen geführt - schreiende Babys, Obdachlose, Kriegsversehrte. Die erste Gruppe wurde aufgefordert, beim Betrachten jeden Anflug von Mitgefühl zu unterdrücken. Die zweite Gruppe durfte Sympathie-Empfindungen zulassen, jedoch nicht aufkommende Gefühle von Stress oder Bedrängnis. Die dritte Gruppe durfte ihre Gefühlen freien Lauf lassen. Danach mussten alle Probanden Fragebögen zu ihrer moralischen Identität und ethischen Prinzipien ausfüllen, sowie zu ihrer Bereitschaft, ihre Regeln zu brechen.
Unbehaglicher Widerspruch
Die Ergebnisse zeigten, dass all jene, die gefühlskalt bleiben mussten, einen Widerspruch zwischen ihrer Handlung und ihrer inneren Haltung erlebten (kognitive Dissonanz) - für die meisten ein unbehagliches Gefühl. Unterdrücktes Mitgefühl führte zudem zu einem Widerspruch zwischen moralischer Identität und der Bereitschaft, die Regeln zu brechen.
An sich sind Menschen mit hohen moralischen Werten selten bereit, ihre Prinzipien zu verletzen. Unter den Teilnehmern erzielten all jene, die ihr Mitgefühl unterdrücken mussten, hohe Werte beim Punkt "moralische Identität". Jedoch waren sie eher bereit, ihre Regeln zu brechen, als die Personen der anderen Gruppen. Um die Unstimmigkeit der kognitiven Dissonanz auszumerzen und ihre Handlungen zu rechtfertigen, opferten sie ihre Werte. Verdrängtes Mitgefühl unterminiert somit die Identität. Wer sich den Euro lieber behält, anstatt ihn dem Bettler zu schenken, erspart sich also viel weniger, als ihn die Handlung im Endeffekt kostet.
Je regelmäßiger jemand zudem sein Mitgefühl unterdrückt, desto öfter und bereitwilliger handelt er unmoralisch, berichten die Forscher im Fachjournal "Psychological Science". Wenn die Forderung von außen kommt, diese Gefühle zu unterdrücken, wird der Effekt verstärkt - wir werden somit zu "schlechteren" Menschen.