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Der Rechtsstaat hat derzeit alle Hände voll zu tun, seine Vorstellungen vom Zusammenleben durchzusetzen. Das klingt paradox, weil der Alltag der überwiegenden Mehrheit von einer Gefährdung nichts oder jedenfalls wenig zu spüren bekommt, aber trotzdem von einem Gefühl getrieben wird, dass die Dinge aus dem Gleichgewicht sind.
Die Mittel dagegen reichen von Bekleidungsvorschriften und Wertekursen über Alkoholverbote und Nachtsperren über die säkulare Neuinterpretation religiöser Symbole (Bayern hat soeben verfügt, dass das Kreuz in allen Amtsgebäuden zu hängen hat) bis hin zu einer rigiden Auslegung von Straf- und Fremdenrechtsgesetzen.
So umstritten diese Maßnahmen im Einzelfall zwischen den Parteien auch sind, grosso modo kann davon ausgegangen werden, dass sie im Einklang mit der öffentlichen Stimmung erfolgen.
So ungefähr, wie sich jetzt die Kämpfer für ein linksliberales Weltbild fühlen, haben sich wohl auch vor 40 Jahren und mehr die Konservativen gefühlt. Es ist immer bitter, wenn der Zeitgeist einem ins Gesicht bläst.
Dabei sollten wir uns heute so wenig Illusionen machen wie sie damals, in den Zeiten des vermeintlich progressiven Aufbruchs. An der konsequenten Durchsetzung des Rechtsstaats führt kein Weg vorbei. Aber diese Durchsetzung allein wird nicht dazu führen, dass wir das Gefühl haben, in einer gerechten Gesellschaft zu leben. Recht und Gerechtigkeit gibt es nur im Doppelpack, aber deckungsgleich sind sie eben auch nicht. Staatlich gesetztes Recht lebt von der so weit wie möglich objektiven Bestimmung individueller Schuld und damit einhergehender Verantwortung. Vorstellungen von Gerechtigkeit sind das Ergebnis von persönlicher Moral und gesellschaftlicher Verständigung.
Nirgendwo sorgt diese Ambivalenz für größere, auch politisch relevante Spannungen als im Umgang mit Migranten und Asylsuchenden. Deutschland etwa debattiert gerade das Spannungsverhältnis zwischen den Erfordernissen des Rechts und den Geboten der Mitmenschlichkeit. Dass Menschen außer Landes gebracht werden, wenn sie kein Recht auf Asyl oder sonst einen gültigen Aufenthaltstitel haben, ist Gesetzeslage. Dies konsequent durchzusetzen, ist politisch unumstritten.
Das kann sich jedoch ändern, wenn ein Rechtsfall in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem menschlichen Schicksal wird, für das sich Freunde, Nachbarn oder Arbeitgeber einsetzen. Oft mit nachvollziehbaren Argumenten. Nur gibt es auf die dann laut werdende Forderung nach humanitären Lösungen noch keine allgemein akzeptierte Antwort. Nicht von der Politik, und damit auch nicht von uns, den Bürgern der Gesellschaft.