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Der heftigen Erregung über Thilo Sarrazin und die Integrationskritik des türkischen Botschafters Kadri Ecvet Tezcan geht langsam die Luft aus. Das erleichtert die mögliche Antwort auf die berühmteste Frage der Geschichte, gestellt von Pontius Pilatus: "Was ist Wahrheit?" Die Psychologie antwortet: "Übereinstimmung der Aussage mit der Wirklichkeit." Womit man vor einem Problem steht: Wer nimmt die Wirklichkeit wie wahr?
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Der Fall Sarrazin belegt unterschiedliche, weil selektive Wahrnehmungen der Wirklichkeit. Die einen nehmen seine Analyse ernst, andere verdonnern ihn wegen des "jüdischen Gens" und der "Erbdummheit" der Muslime - Passagen, die Sarrazin in der mittlerweile 14. Auflage seines Buches entschärft hat.
Nicht anders der Fall Tezcan. Man gesteht ihm zu, selbst mit teils haltloser Kritik an Österreich die Defizite unserer Integrationspolitik freigelegt und eine überfällige Diskussion darüber angestoßen zu haben. Aber: So undiplomatisch darf doch ein Botschafter nicht sein.
Was zählt mithin in beiden Fällen: die Substanz der Aussage, oder Fehlgriffe in der Wortwahl und "undiplomatische Privatmeinung"? Offensichtlich steckt in solchen Urteilen selektive Wahrnehmung.
Ein geradezu klassisches Beispiel bietet der Assistenzeinsatz des Bundesheeres im Burgenland, der laut Rechnungshof im Jahresdurchschnitt 22 Millionen Euro und pro Aufgriff weit mehr als eine Million kostet. Nach der "gefühlten Sicherheit" halten viele Burgenländer diesen Einsatz für gut, obschon unbewaffnete Soldaten ohne exekutive Befugnisse Dienst tun. Das gilt in geradezu konträrer Wahrnehmung der Wirklichkeit als verbesserte Sicherheit oder als sagenhafte Geldverschwendung.
Dabei spielt die enge Perspektive persönlicher Interessen eine starke Rolle. Beispiel: Die Umstellung von Schilling auf Euro. Monate vor diesem Termin informierten tonnenweise verteilte Broschüren und natürlich die Medien über diesen Vorgang. Sogar Volksschüler deklamierten den Wechselkurs. Als dann der Euro da war, kam die Ernüchterung: "Das haben wir nicht gewusst, man hat uns nicht informiert!" Verständlich, denn so lange niemand die neue finanzielle Wirklichkeit persönlich fühlte, war der Umtausch nicht Wirklichkeit, also "unwichtig".
Gleiches gilt für die Themen "Ausländer" und "Integration". Viele Kinder mit "Migrationshintergrund" in einer Schulklasse irritieren viele Eltern. In Bergdörfern existiert dieses Problem aber nicht. Hinzu kommt die (verständliche) Neigung zu Pauschalurteilen. Weil terroristische Islamisten Ängste verbreiten, ist "der Islam" suspekt. Und weil ein paar Afrikaner wegen Drogenhandels auffliegen, traut man jedem Schwarzen Übles zu.
Und die Wirklichkeit? Sie erschließt sich erst bei vorurteilsfreier und differenzierter Analyse. Das ist mühsam - und schwierig, wenn Wahlkämpfer mit Pauschal- und Vorurteilen oder Angstparolen jeden Ansatz zur Differenzierung konterkarieren.
Clemens M. Hutter war Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".