Ende Mai äußerte Kiew gleich zwei Beitrittswünsche: Die Ukraine möchte lang- und mittelfristig der EU beitreten und NATO-Mitglied werden. In einem wichtigen Bereich übt Russland über den kleineren Nachbarn aber noch immer starken Einfluss aus: im Energiesektor.
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Die nach Maßstäben des historischen Materialismus reiche Ukraine fand sich nach ihrer Unabhängigkeit 1991 als das Armenhaus Europas wieder. Unter den verschärften Bedingungen des zeitgenössischen Kapitalismus erwiesen sich die einstigen Flaggschiffe, Großindustie und Großlandwirtschaft, wie andernorts auch, als schwächlich und stützungsbedürftig. Neben teils zusammen-, teils weggebrochenen Absatzmärkten für die Erzeugnisse der schwarzen Erde und der Eisenhütten stellte die abreißende Versorgung mit billigen Energieträgern aus der ehemaligen Sowjetunion ein Hauptproblem dar. Im Nu war das Land, das laut offiziellen Angaben zwischen einem Viertel und einem Fünftel des Bedarfs aus eigenen Öl- und Gasvorkommen decken kann, bei der Russischen Föderation und Turkmenistan knietief verschuldet. Es blieb zum einen die Kohle - ihre Förderung wird noch immer subventioniert, die Bergleute haben dennoch häufig Lohnrückstände und gefährlichste Arbeitsbedingungen zu beklagen - und zum andern die Kernkraft. Wie gravierend die Energieknappheit war, zeigt wohl am besten der Weiterbetrieb des Unglücks-Kraftwerks Tschernobyl (Chornobyl). Um das Energie-Loch zu stopfen, das die vereinbarungsgemäße Stilllegung dieses Meilers im Dezember 2000 riss, beteiligen sich die EU und Russland am Fertigbau von "K2R4", den Kernkraftwerken von Rowno und Chmelnizkij (Rivne und Khmelnitzky) im Nordwesten des Landes.
Strategische Hypothek der Energieabhängigkeit
Ein Streit, der sich durch das erste Jahrzehnt der Unabhängigkeit zog und bisweilen zu erheblichen Spannungen mit dem großen Bruder Russland führte, scheint nun einer Lösung nähergekommen - der Gasstreit. 90 Prozent der russischen Gasexporte nach Westeuropa strömen durch Leitungen in der Ukraine; mit den Transitgebühren daraus bezahlte die Ukraine einen Teil ihrer Gasrechnungen. Aufgrund der wachsenden Ergasschulden gegenüber Russland (die russische Nachrichtenagentur ITAR-TASS kolportiert einen aktuellen Stand von 1,4 Mrd. USD, mit denen Kiew beim Energieriesen Gasprom in der Kreide steht; Ende der 90-er Jahre belief sich der Betrag noch beinah aufs Doppelte) und den daraus resultierenden Engpässen und zeitweiligen Lieferstopps soll die Ukraine illegal Gas abgezweigt haben, so ein russischer Vorwurf. Kiew machte das Alter der maroden Pipelines für solche "Netzverluste" verantwortlich. Erst im Dezember 2000 gelang ein Durchbruch: Russland gewährte einen Zahlungsaufschub um bis zu 11 Jahre und verzichtete auf den angedrohten Bau einer (zu kostspieligen) Bypass-Leitung durch Weißrussland und Polen, welche Westeuropas Versorgungssicherheit gewährleisten und die Ukraine links liegen lassen hätte sollen. Eine Umwandlung der ukrainischen Erdgasschulden in russische Anteile an ukrainischen Gaspipelines hatte die Werchowna Rada - das Kiewer Parlament - entschieden abgelehnt: Die Gasleitungen müssten, da von strategischer Bedeutung für die politische Selbständigkeit der Ukraine, in ukrainischer Hand bleiben. Die Position des ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma in dieser Frage war übrigens dem Parlament immer zu lasch erschienen und hatte ihm von rabiaten Oppositionellen den Vorwurf eingetragen, das Land russischen Interessen preiszugeben.
Vor drei Wochen vereinbarten Russlands Präsident Wladimir Putin und Kutschma eine strategische Kooperation im Erdgasbereich. Ein gemeinsames Konsortium soll, unter später denkbarer Beteiligung deutscher, französischer und italienischer Firmen, das Gasleitungssystem instandsetzen, modernisieren und ausbauen. Für die Versorgungssicherheit der Westeuropäer, beim Treffen Putin-Kutschma durch Deutschlands Kanzler Gerhard Schröder vertreten, sollen in den nächsten zwei Jahren 2,5 Mrd. USD investiert werden. Sogar die nationalistischen Ruch-Abgeordneten sehen in dieser Art Privatisierung keine Gefahr für die ukrainische Souveränität mehr. Innerhalb der nächsten zehn Jahre sollen die Kapazitäten des Leitungsnetzes um 30 Prozent erhöht werden. Diesen Montag, dem 24. 6. 2002, stimmten die Ministerpräsidenten der Ukraine, Anatolij Kinach, und der Russischen Föderation, Michail Kasjanow, einem von Gasprom und der ukrainischen Naphtogas ausverhandelten Abkommen zu, das die Durchleitung von 110 Mrd. m³ Erdgas pro Jahr für die kommende Dekade vorsieht. Einzelheiten des Deals wollte der befasste ukrainische Vizepremier Oleh Dubina nicht nennen, ehe sein russischer Amtskollege Viktor Christenko dieser Tage zur Unterschrift anreist, doch dürfte damit im Verhältnis zum riesigen Nachbarn eine Normalisierung angebahnt sein. Die Energieabhängigkeit der Ukraine bleibt freilich bestehen, auch die Beteiligung westeuropäischer Firmen an den Energiestrukturen ist eigentumsrechtlich noch fraglich.
Der Weg der Ukraine von Russland nach Europa
Während Russland, wie der Gasstreit zeigt, in den Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion politischen und wirtschaftlichen Einfluss auf die unabhängige Ukraine auszuüben versuchte, optierte diese in Gegenrichtung, hin auf Europa. Anfangs zögerlich, seit Mitte der 90-er Jahre verstärkt und jetzt mit Nachdruck. Am 31. Mai 2002 verkündete Kutschma dem Parlament in einer Grundsatzrede die "klare und prioritäre Orientierung hin auf die Integration in die Europäische Union". Innerhalb der nächsten zehn Jahre soll der Status eines assoziierten Mitglieds oder Vollmitglieds zu erlangen sein. Die dahingehenden Bemühungen (und der schließlich erhoffte Erfolg) würden der Ukraine einen zusätzlichen sozialen, wirtschftlichen und politischen Entwicklungsschub geben, so Kutschma. Die Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation spätestens 2003 soll die Voraussetzungen für die Aufnahme von Assoziierungsverhandlungen mit der Union schaffen (bis 2004), spätestens 2007 soll die ukrainisch-europäische Freihandelszone inkrafttreten, ab 2011 soll über einen Unionsbeitritt gesprochen werden können. Das Beitrittsgesuch an Brüssel liegt also noch in weiter Ferne; auch die Europäer rechnen nicht mit einem wesentlich näheren Termin. Erweiterungskommissar Günter Verheugen soll früher einmal sogar mit den Worten abgewunken haben, ein EU-Beitritt der Ukraine käme einem Eintritt Mexikos in die Vereinigten Staaten von Amerika gleich. Obwohl vonseiten der EU noch keine Stellungnahme zu den jüngsten ukrainischen Plänen vorliegt, betrachtet sie die ukrainischen Ambitionen keineswegs als unmöglich, sondern vielmehr als langfristiges Ziel. Am 1. 3. 1998 trat das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) zwischen EU und Ukraine inkraft, am 11. 12. 1999 verabschiedete der Europäische Rat eine "Gemeinsame Strategie für die Ukraine", am 27. 12. 2001 legte die Kommission in einem weiteren Strategiepapier zur Ukraine ihr Programm für den Zeitraum von 2002 bis 2006 vor.
"In der Erwägung, dass die Ukraine als möglicher Kandidat für einen künftigen Beitritt zur Europäischen Union angesehen werden sollte", listen die Dokumente jedoch einiges an Vorbehalten auf und haben jede Menge zu kritisieren: Unregelmäßigkeiten bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 1998 und 1999 (bei den Parlamentswahlen im März 2002 ist es auch nicht immer mit rechten Dingen zugegangen), mangelnde Rechtsstaatlichkeit, den lähmenden Verfassungskonflikt zwischen Präsident und Parlament - und eine Geschichte, die Kutschma 2001 beinahe das Genick gebrochen hätte - den Fall Gongadse. Der Journalist Georgij Gongadse, Herausgeber der regierungskritischen Internet-Zeitung "Ukrainska Prawda", war im September 2000 verschwunden, im Februar 2001 wurde eine nahe Kiews entdeckte, enthauptete Leiche als die seine identifiziert. Offiziellen Stellen wurde die Verschleppung der - bis heute nicht erfolgten - Aufklärung des Mordes vorgeworfen; heimlich von einem ehemaligen Leibwächter Kutschmas aufgenommene Tonbänder - deren Echtheit bis heute nicht geklärt ist - legten eine mögliche Verwicklung des Präsidenten und hoher Staatsbeamter in das Verschwindenlassen und die Ermordung des Journalisten nahe. Das Parlament scheiterte allerdings beim Versuch, Kutschma abzusetzen.
Neben Hilfszusagen, was den ukrainischen WTO-Beitritt und die Energieversorgung betrifft, will die Union in den kommenden Jahren vor allem Schritte hin auf mehr Rechtsstaatlichkeit "als der Bedingung für Demokratie und soziale Marktwirtschaft" unterstützen und das Investitionsklima verbessern. Ein wichtiger Punkt im Hinblick auf die erste Welle der Osterweiterung ist aber auch der Aufbau eines effizienten und zuverlässigen ukrainischen Grenzregimes ("border management"). Der bilaterale Handel zwischen EU und Ukraine sowie die Wirtschaft in den Grenzregionen zu Polen, der Slowakei und Ungarn soll erleichtert, Schmuggel, Frauenhandel und Schlepperunwesen sollen eingedämmt werden. 15 Mill. Euro lässt sich das die Union heuer kosten, 7 Mill. 2003.
Warten auf einen ermutigenden Wink
Entscheidendes - jedenfalls Ermutigung und vielleicht den Wink mit einer Einladung zu einer nicht allzu fernen Mitgliedschaft - erhofft sich die Ukraine von der in ihren Medien durchwegs "Gipfeltreffen" genannten 6. Zusammenkunft der europäisch-ukrainischen Kommission in Kopenhagen vom 3. bis 4. Juli. Die ukrainische Nachrichtenagentur Ukrinform zitierte EU-Kommissionspräsident Romani Prodi im Vorfeld des Gipfels dahingehend, dass die bevorstehende EU-Erweiterung zu positiven Ergebnissen für alle Länder des Kontinents führen müsse, ohne neue Trennlinien zu ziehen. Martin Malek von der österreichischen Landesverteidigungsakademie formulierte es, in einem Vortrag, gehalten in der ukrainischen Botschaft, jüngst so: "Die EU sollte - auch und gerade im eigenen Interesse - einen 'europäischen Wind' in das Kiewer Segel blasen. Andernfalls könnte das ukrainische Schiff nach Osten abgetrieben werden."
Bereits am 29. Mai dieses Jahres deponierte Außenminister Anatolij Slenko den Beitrittswunsch der Ukraine bei einer anderen Organisation mit Sitz in Brüssel - der NATO. Im Rahmen der "Partnerschaft für den Frieden" und am Balkan hat die Ukraine schon einiges geleistet, "der Weg zum Endziel unserer Politik - der Integration in euroatlantische Strukturen - wird aber lange und schwierig sein", erklärte Verteidigungsminister Wolodymyr Schkidschenko.
Beobachter fanden, diese NATO-Annäherung der "neutralen" Ukraine sei erst möglich geworden durch den vorausgegangenen entsprechenden Schwenk Russlands in Richtung nordatlantische Partnerschaft. NATO-Generalsekretär George Robertson versprach jedenfalls Konkreteres für den nächsten NATO-Gipfel im November in Prag.
Interview
Wolodymyr Ohrysko, der ukrainische Botschafter in Österreich, sieht sein Land nunmehr "an der Schwelle sehr interessanter Entwicklungen". Auf dem Weg zu mehr Investitionssicherheit komme die Ukraine gut voran, nach erfolgter Osterweiterung werde eine "neue Welle" von Investitionen auch die Ukraine erfassen. Österreich sei schon jetzt sehr präsent - Ohrysko nennt Raiffeisen, Bank Austria, BILLA, VOEST, Fischer; hinzu kommen holz- und papierverarbeitende sowie auf Rohrleitungssysteme spezialisierte Betriebe -, er wünscht sich noch mehr Engagement, zum Beispiel auch der OMV, die im Energiesektor mitmischen könnte. Für 2001 kann er, nach Rückgängen in den 90-er Jahren, auf ein Wirtschaftswachstum von über 9 gegenüber sechs Prozent im Jahr 2000 verweisen; die Prognose für heuer liegt laut Wirtschaftskammer ebenfalls bei sechs Prozent.
Auf die Frage der "Wiener Zeitung" nach den Umständen, die die NATO-Annäherung der Ukraine ermöglicht haben, betont der Botschafter, sein Land sei "von den Wurzeln her europäisch"; gleichwohl sei die Einbeziehung Russlands in die 'NATO der 19 + 1' berechtigt, "weil es (Russland, Anm.) ein großer Spieler ist".
Die Frage, wann denn - die Parlamentswahlen 2002 sind nun schon drei Monate her, das Kabinett Kinach wurde aber nicht verändert - ein neuer Premier ernannt werde, meint Ohrysko, da müsse das Parlament erst zu einer Einigung kommen. Das sei sehr schwierig; Einigkeit herrsche mittlerweile aber in der Europaorientierung: "Selbst die Kommunisten sind für Europa", so Ohrysko.