Häusliche Gewalt ist keine Privatangelegenheit mehr: Rund 6.558-mal mussten Polizei und Gendarmerie im Jahr 2003 in Österreich zu "Streitschlichtungen" ausrücken. Tendenz steigend. Für Heinz Patzelt, Geschäftsführer von Amnesty International, ist Gewalt in der Familie der Menschenrechtsskandal unserer Zeit. Jede fünfte Österreicherin habe in irgendeiner Form familiäre Gewalt erlebt.
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Es ist nicht ganz einfach, in die hellen Räumlichkeiten der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie in der Amerlingstraße zu gelangen. Über eine Gegensprechanlage müssen sich Besucher anmelden, der Eingangsbereich wird Video-überwacht und die Sicherheitstüre verfügt über eine Verriegelungsautomatik, die beim Öffnen wie beim Schließen mechanisch surrt. "Bei uns ist zwar noch nie etwas passiert" - berichtet Rosa Logar, die Chefin hier, - aber wer Opfern helfe, gerate nicht selten auch ins Schussfeld der Täter: "In einem Frauenhaus in St. Pölten wurde einmal ein Kriminalbeamter erschossen."
Dass die Sozialarbeiterinnen in der Amerlingstraße vorsichtig sind, verwundert nicht, bedenkt man, womit sie es täglich zu tun haben. Schläge, Misshandlungen, Vergewaltigungen, Verletzungen durch Gebrauch von Hieb-, Stich- und Schusswaffen, Scherben, Flaschen und Aschenbechern. Mehr als 2.100 Fälle hatte allein die Wiener Interventionsstelle im Jahr 2003 zu betreuen. In 96 Prozent der Fälle sind die Täter männlich. Zum Großteil sind sie die Ehemänner oder Lebensgefährten der Opfer, oder waren es einmal.
Dass überhaupt so viele Fälle bekannt werden, ist auch ein Verdienst des Gewaltschutzgesetzes, das im Mai sieben Jahre alt wird. Das Gesetz brachte einen radikalen Paradigmenwechsel: Vier Prinzipien, erläutert Albin Dearing, Jurist im Innenministerium, wurden verankert: "Erstens: Gewalt ist keine Familienangelegenheit. Zweitens: Gewalt ist - auch wenn sie in der Wohnsphäre begangen wird - kriminelles Unrecht. Drittens: Der Gefährder trägt die Verantwortung, die staatliche Reaktion muss sich daher gegen ihn richten. Und - viertens - die Sicherheit des Opfers hat Priorität."
An die Schauplätze der familiären Auseinandersetzungen gelangt vor allen anderen die Polizei: Oft wählen die Nachbarn den Notruf 133, wenn der Lärm in der Wohnung nebenan unüberhörbar geworden ist. Die Sicherheitsbeamten nehmen die Wohnung in Augenschein, befragen Angehörige und - getrennt voneinander - die Parteien. "Das ist ganz wesentlich, weil oft ein Augenzwinkern des Mannes genügt und das Opfer schweigt," erläutert Maria Ullmann, die heute in der Präventionsstelle des Innenministeriums sitzt und bis vor kurzem selbst auf Streife war. Stellen die Sicherheitswachebeamten fest, dass ein "gefährlicher Angriff" bevorsteht, verfügen sie vor Ort - notfalls auch gegen den Willen des Opfers - eine "Wegweisung". Ullmann: "Dem Gefährder werden die Schlüssel weggenommen, er muss seine Sachen packen und verlässt gemeinsam mit den Beamten die Wohnung." Zehn Tage lang ist es ihm untersagt, zurückzukehren. Hält er sich nicht daran, drohen Verwaltungsstrafe, Abmahnung und - als letzte Konsequenz - Haft.
Längstens 24 Stunden nach Ausspruch der Wegweisung kontaktieren die Sicherheitsbehörden per Fax die Interventionsstelle, die ihrerseits die Opfer anruft, informiert, rechtlich berät und bei Gericht hilft. In drei Viertel der Fälle zieht die Gewaltintervention auch ein Strafverfahren nach sich. Erlässt der Richter eine einstweilige Verfügung, darf der Gefährder drei Monate lang bzw. bis zum Abschluss einer allfälligen Scheidung die Wohnung nicht mehr betreten und seine Partnerin nicht mehr sehen.
Dass alle Probleme mit der Intervention gelöst wären, ist freilich ein Irrglaube: Zu bestehenden psychischen Belastungen kommen neue. Dazu wirtschaftliche Schwierigkeiten - Logar: "Der Mann geht und die Geldbörse nimmt er mit" - sozialer Druck, Loyalitätskonflikte. Für Menschen in ländlichen Gebieten oder Immigrantinnen sei es noch schwieriger. Familienrichterin Gabriele Thoma-Twaroch weiß von Fällen zu berichten, wo "die ganze Familie des Mannes aufmarschiert, um die Frau daran zu hindern, dass sie zu Gericht geht."
Was hinter familiärer Gewalt steht, verrät Gewaltforscherin Rotraud Perner: "Die Unfähigkeit, aggressive Impulse anders als durch körperliche Aktivität oder Grausamkeit zu bewältigen." Wut, so Perner, könne, einem erlernten Modell folgend, nur auf diese Weise ausagiert werden. Um familiäre Gewalt zu verhindern, sei es nötig, die eigenen Gefühle zu erkennen und diese in Sprache auszudrücken. Therapieformen, auch die Anti-Gewalttrainings könnten diese Erkenntnis fördern: "Allerdings nur, wenn derjenige auch bereit ist, an sich zu arbeiten".
Was die gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt angeht, sieht Perner einerseits "offizielle Lippenbekenntnisse, dass Gewalt verachtet wird". Andererseits fehle es an einem Modell, was zu tun ist, "wenn Mann vor Wut zappelt". Für AI-Chef Patzelt ist klar, dass die Gewaltbekämpfung über die Gleichstellung von Mann und Frau führen muss: "Bevor ich einem anderen Gewalt antun kann, muss ich ihn als Menschen zweiter oder dritter Klasse betrachten." Für Patzelt ist familiäre Gewalt Anlass, den Begriff Menschenrecht zu erweitern: "Auch im privaten Bereich sind Menschenrechte und menschenrechtliche Standards einzuhalten", erklärte er am Freitag im ORF-Radio. Staaten will er nicht aus der Verantwortung entlassen, "aber den Menschen in die Verantwortung nehmen".
Aus rechtsdogmatischer Sicht ist Patzelts Sicht nicht uninteressant: Historisch beruhen die Menschenrechte auf der Freiheitsidee. "Grund- und Freiheitsrechte" waren ursprünglich eine politische Forderung gegen den Staat und dessen unumschränkte Gewalt. Klassisch-liberale Freiheitsrechte schützen vor allem die individuelle Freiheitssphäre vor staatlichen Eingriffen. Dass die Grundrechte auch für die Beziehungen unter den Bürgern gelten sollen, wurde von der österreichischen Rechtslehre bisher eher abgelehnt.
Dogmatik hin oder her - steigende Fallzahlen zeigten, dass nicht mehr so viel weggeschaut wird wie früher, sind sich alle Beteiligten einig. Ein positiver Trend, der allerdings auch eine Kehrseite hat: Seit 1998 sind die Fallzahlen bei der Wiener Interventionsstelle um 700 Prozent angestiegen. Logar: "Wir haben derzeit 6,5 Dienstposten. Ohne zusätzliches Personal können wir einen erheblichen Teil der zugewiesenen Opfer nicht mehr betreuen."