Vor dem Kreiskrankenhaus von Cuetzalan herrscht am Donnerstag und am Sonntag immer Hochbetrieb. Indianische Frauen in ihren Blumen bestickten Kleidern und Männer in ihren weißen Baumwolltrachten, die an den Markttagen aus ihren Dörfern gewandert kommen, stehen vor dem Gebäude Schlange, um sich behandeln zu lassen.
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Dort in Cuetzalan, einer Kleinstadt rund 300 Kilometer nordöstlich von Mexiko-Stadt, haben sie die Auswahl: Sie können einen Doktor im weißen Kittel aufsuchen oder sich einer "Curandera" oder einem "Huesero" anvertrauen. Letztere sind indianische Heilkundler, die ihre Patienten nach althergebrachter Art mit Salben, Lotionen und Pulvern auf Kräuterbasis, mit Massagen oder mit Beschwörungsformeln kurieren.
Aus den Dörfern Mexikos sind sie nicht wegzudenken. Doch selten wird ihnen ein so hervorgehobener Platz eingeräumt wie in Cuetzalan, wo ihnen hinter dem Haupttrakt des "Hospital Integral" eine eigene Abteilung zur Verfügung steht. Denn obwohl Mexiko auf eine 3.000 Jahre alte indianische Kultur zurückblicken kann und rund zehn Millionen indianische Ureinwohner zählt, ringt die traditionelle Medizin immer noch um offizielle Anerkennung.
"Unsere Großväter haben uns immer nur mit Pflanzen behandelt", sagt Micaela Perez, eine der in Cuetzalan tätigen Hebammen. In dem Anbau des Hospitals gibt es einen speziellen Raum, in dem Frauen ihre Kinder nach traditioneller Art in der Hocke zur Welt bringen können.
Nach der Niederkunft werden die jungen Mütter oft in ein Temascal-Dampfbad geschickt. Hierbei handelt es sich um kleine gemauerte Kammern, die mit heißen Kräuterdämpfen angefüllt werden und in Mexiko schon seit Urzeiten existieren. Ein Besuch im Temascal wirkt auch gegen Knochen-, Muskel- und Gelenkschmerzen Wunder.
Das kleine Spital besitzt auch ein eigenes Herbarium. Es gibt dort Kräuter gegen Husten und gegen Durchfall, gegen Blutungen und gegen Gallenbeschwerden. Eine kleine Apotheke bietet unter anderem Tropfen gegen Kopfschmerzen und Salben gegen Rheuma an. Auf dem Etikett prangt auf Nahuatl, der Sprache der Azteken, der Zungenbrecher "Masehualpajtli", der Name der Vereinigung der indianischen Heilkundler der Region, die rund 60 Mitglieder zählt.
Jene verstehen sich auch auf psychische oder psychosomatische Erkrankungen. Bei der Diagnose lassen sich die "curanderos" oft von altindianischen Glaubensvorstellungen an Zaubereien und den "Bösen Blick" leiten, was trotz des Geruchs des Aberglaubens dem Heilungserfolg nicht im Wege steht.
"Gerade bei psychisch bedingten Erkrankungen ist die traditionelle Medizin viel effizienter als die akademische, und außerdem: wo finden sie auf dem Lande einen Psychologen, Psychiater oder gar Psychoanalysten?" sagt der Anthropologe Carlos Zolla vom Instituto Nacional Indigenista (INI der mexikanischen Indianerbehörde.
Zolla kämpft in Mexiko seit Jahren für die Anerkennung der traditionellen Medizin. Immerhin sind inzwischen entsprechende Gesetze in Vorbereitung. Für die Indios in Cuetzalan steht die Effizienz ihrer Heilkunst außer Frage. "Schauen Sie, ich bin schon alt und grau, aber mir geht es gut, und ich habe nie im Leben eine Medizin genommen", sagt die Hebamme Lopez (69).