Politologe Burak Çopur über das Zerwürfnis zwischen Wien und Ankara und die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei.
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Wiener Zeitung: Österreichs Kanzler Christian Kern will die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei kappen, der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu spricht daraufhin von "radikalem Rassismus". Wie erklären Sie sich die Heftigkeit dieser Reaktion?
Burak Copur: Das hat etwas mit Österreich zu tun. Es handelt es sich um eine Melange unterschiedlicher Aspekte. Da schwingt die Geschichte und Belagerung von Wien unterschwellig mit. Österreich wird von der Türkei eine Türken-Feindlichkeit vorgeworfen. Das hat auch damit zu tun, dass Österreich tendenziell immer skeptisch zur türkischen EU-Mitgliedschaft ist. Die Türkei sieht deshalb Österreich als einen Blockierer auf dem Weg in die EU an. Und jetzt kommt der Putsch und der Vorwurf an den Westen, man wäre ignorant. Das ist eine höchst sensible Phase für die Türkei, wo sie sich von außen nicht reinreden lassen möchte. Aus diesem Grund wird dermaßen über das Ziel hinausgeschossen. Der Rassismus-Vorwurf ist natürlich völlig inakzeptabel.
Wiener Zeitung: Und Bundeskanzler Kern bekommt das jetzt ab?
Burak Copur: Ja, leider. Außenminister Sebastian Kurz hingegen wird von der Türkei als Jungspund nicht ernst genommen. Bekanntlich wurde auch seine Internetseite von Erdogan-Anhängern gehackt. Das alles hat ihn (Außenminister Kurz, Anm.) geärgert und gekränkt. Es gibt also eine geschichtliche, politische und auch eine persönliche Dimension in den österreich-türkischen Beziehungen.
Wiener Zeitung: Wie wichtig ist eine EU-Beitrittsperspektive für die Türkei eigentlich noch?
Burak Copur: Die Beitrittsverhandlungen sind ja eine Farce, ein gegenseitig verlogenes Schauspiel. Dennoch wird das de jure aufrechterhalten. Es wäre auch falsch, die Beitrittsverhandlungen einseitig aufzukündigen, weil man dadurch Erdogan nur weiter den Rücken stärken würde. Der Vorschlag des österreichischen Kanzlers ist in der Sache richtig, aber für die EU nicht förderlich. Der Schuss würde nach hinten losgehen und die EU hätte den Schwarzen Peter. Die Türkei würde sich bestätigt fühlen und argumentieren: "Haben wir doch schon immer gesagt, dass die EU uns nie wollte. Die EU ist eben keine Wertegemeinschaft, sondern ein Christen-Club!".
Wiener Zeitung: Ist die Europäische Union für die Mehrheit der Türken überhaupt noch erstrebenswert?
Burak Copur: Es herrscht eine Enttäuschung auch unter liberalen Kräften der Zivilgesellschaft. Durch den Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei sind Liberale in der Türkei von der EU enttäuscht. Der Vorwurf lautet, dass man sich zu Bücklingen vor einem despotischen Regime gemacht hat. Durch diesen Flüchtlings-Pakt hat man Erdogan ja massiv aufgewertet. Man hat alles auf die auf die türkische Karte gesetzt. Das war ein großer strategischer Fehler der Europäischen Union.
Wiener Zeitung: Was wäre und ist die Alternative zum Flüchtlingsdeal?
Burak Copur: Die EU muss jetzt handeln und an einem vernünftigen Plan B arbeiten. Die Probleme mit der Türkei unter den Teppich kehren hilft nicht weiter. Eine sofortige gemeinsame Europäische Flüchtlingskonferenz mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) wäre einzuberufen. Dort könnte die EU zusammen mit der UN und verschiedenen Anrainer-Staaten an einem Tisch sitzen und ein gemeinsames Konzept mit Sofortmaßnahmen ausarbeiten. Auch die Türkei wäre in dieser Überlegung einer dieser wichtigen Anrainer, mit dem die EU weiterhin in der Flüchtlingsfrage zusammenarbeiten muss. In diesem Plan B dürfte die EU jedoch nicht mehr nur alleine auf Erdogan setzen. Es ist ein Schlag ins Gesicht für die große europäische Idee, dass Brüssel sich zu Bücklingen vor einem despotischen Regime gemacht hat."