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Gehasst, geliebt

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Jeremy Corbyn ließ kein Fettnäpfen aus, doch die Basis hält dem betont linken Labour-Chef immer noch die Stange. Eine Bilanz.


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London. Vor einem Jahr bescherte Jeremy Corbyn seinen Parteikollegen eine echte Überraschung. Bei der Wahl zum Labour-Parteichef schlug der Linkssozialist und langjährige Fraktions-Außenseiter mit 60 Prozent der Stimmen drei prominente Rivalen aus dem Feld.

Am Samstag hofft der inzwischen 67-jährige Parteichef, sich ein erneutes deutliches Mandat zu sichern - obwohl das Jahr, das hinter ihm liegt, ein äußerst schwieriges Jahr war.

Denn Corbyn hat, seit er zum Vorsitzenden aufrückte, wenig Boden gut gemacht für Britanniens Partei der linken Mitte. Seine Auftritte im Parlament haben eher enttäuscht. Gegen Ex-Premier David Cameron hat er selten punkten können. Stattdessen hat ihm ungeschicktes Operieren immer neue Kritik eingetragen. Und seine kaum kaschierte Abneigung gegen die EU hat während der Referendums-Kampagne dieses Sommers maximale Verwirrung gestiftet - und am Ende wahrscheinlich mit zum Brexit geführt.

Auf vielfache Weise hat Corbyn sich auch sonst in die Nesseln gesetzt, im Laufe dieses Jahres. Ausgerechnet auf einer Weltkriegs-Gedenkveranstaltung weigerte er sich, die Nationalhymne mitzusingen. Bei der Berufung des Schattenkabinetts "vergaß" er, Frauen in die höchsten Ränge aufzunehmen. Und im Kampf gegen Antisemitismus in den Parteirängen tat er sich nicht gerade durch Entschiedenheit hervor.

In der Rechtspresse, die ihn täglich angreift, entfesselte er geradezu Entrüstungsstürme, weil er britische Atombewaffnung, Bomben auf IS in Syrien und gezielte Todesschüsse auf Terroristen an der Heimatfront allesamt verwarf. Bei Kommunalwahlen in England in diesem Jahr gelang ihm denn auch kein Einbruch ins konservative Lager. Ukip, die Partei der Rechtspopulisten, luchste Labour vielerorts Stimmen ab.

In Schottland fiel Labour sogar, hinter den schottischen Nationalisten und den Tories, auf einen katastrophalen dritten Platz zurück. Sadiq Khan wiederum, Labours Kandidat fürs Amt des Londoner Bürgermeisters, konnte seine Wahl im Mai nur gewinnen, weil er sich von Corbyn absetzte. Er ist seither zu einem der schärfsten und prominentesten Kritiker des Parteichefs geworden.

Bei der generellen Wählerschaft ist Corbyns Popularität gering. Viele seiner Landsleute können ihn, wenn sie sein Foto vorgelegt bekommen, nicht identifizieren. Die Labour Party selbst hinkt, letzten Umfragen zufolge, 14 Prozent hinter den Konservativen her, statt das Feld anzuführen. Experten glauben, dass Labours Stimmenanteil bei künftigen Unterhauswahlen mit Corbyn sogar auf 20 Prozent, auf eine Rekordmarke, sinken könnte. Und dass die Partei gleich zwei Wahlen hintereinander, 2020 und 2025, verlieren würde.

Gegencoup

Kein Wunder, dass die Fraktion in der Folge des verlorenen EU-Referendums im Sommer zur Rebellion rief. 172 Labour-Abgeordnete sprachen Corbyn das Misstrauen aus. Nur 40 hielten zu ihm. Doch selbst diesem Aufstand vermochte Corbyn mit erstaunlicher Hartnäckigkeit zu trotzen.

Als die Fraktion einen Gegenkandidaten, Owen Smith, gegen ihn aufstellte, nahm er die Herausforderung an - und suchte Rückhalt bei der Basis. Denn nicht die Fraktion, sondern die Mitgliedschaft (samt angeschlossenen Gewerkschaftern und registrierten Sympathisanten) bestimmt dieser Tage den Parteivorsitzenden der Labour Party.

Und auf die Mitgliedschaft baut Corbyn. Neue Mitglieder strömen der Partei noch immer zu, vor allem weil sie Corbyns anti-kapitalistische Prämissen und seinen jahrzehntelangen Einsatz in der Friedensbewegung schätzen. Vor seiner Wahl im vorigen September zählte Labour, nach Jahren kontinuierlichen Niedergangs, kaum 190.000 zahlende Anhänger. Jetzt sind es über 540.000. Damit ist Labour zur größten politischen Partei Europas geworden. Das rechnet sich Jeremy Corbyn als seinen größten Erfolg an.