Die Affäre rund um Julian Assange und die Plattform "WikiLeaks" hat die Frage aufgeworfen, ob es im Zeitalter des Internet überhaupt noch Geheimnisse geben kann. Und wenn ja, wie weit es sie überhaupt geben soll.
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Kafka, heißt es, gehörte zu seinen Lieblingsautoren. In den Jahren, in denen Julian Assange mit dem Motorrad durch Vietnam fuhr und sich allmählich zu dem Mann entwickelte, der dann später "WikiLeaks" aufbauen würde, soll er sehr viel Kafka gelesen haben. Und Kafka passt sehr gut zu dem Geist, aus dem "WikiLeaks" enstand, zum Beispiel die Szene, mit der der Roman "Der Prozess" beginnt: "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Was danach folgt, das ist der zähe, aussichtslose Kampf des harmlosen Bankangestellten gegen eine niemals greifbare, anonyme Macht, die für viele Rezipienten in un-
übertrefflicher Weise die Maschinerie des modernen Staates verkörperte, der sich im Zwanzigsten Jahrhundert zahlreicher Verbrechen schuldig machte.
Für Assange ging es bei der Veröffentlichung von geheimen staatlichen Dokumenten durch WikiLeaks um viel mehr als um einen Skandal und die darauffolgende öffentliche Aufregung. Für ihn ging es um ein Weltbild, das schon Jahre zuvor in dem Manifest "Conspiracy as Governance" (Verschwörung als Regierungsform) Gestalt angenommen hatte. Darin sah er den wichtigsten Konflikt der Gegenwart im Kampf des Individuums gegen die schwer fassbaren Hierarchien des modernen Staates, "Patronagenetzwerke", wie er sie immer wieder nannte. Und in diesen Netzwerken sei, so Assange, das Geheimnis die entscheidende Kategorie. "Die verschwörerische Geheimhaltung" charakterisierte er als die wichtigste Waffe der staatlichen Seilschaften, "die zum Nachteil der Bevölkerung arbeiten". Woraus für ihn folgte, dass die wichtigste Waffe gegen solche politische Strukturen undichte Stellen seien, "leaks", Schwachpunkte, die den direkten Angriff auf die verschwörerische Geheimhaltung ermöglichten. In ihnen sah er die "kostengünstigste politische Intervention, die uns zur Verfügung steht".
Die Asymmetrie. Assange war mit dieser Sicht der Dinge nicht alleine. Schon der deutsche Anarchist Gustav Landauer, auf den sich Assange manchmal bezieht, stellte am Vorabend des Ersten Weltkriegs dem blutrünstigen Staat eine "wirkliche Gemeinschaft und Gesellschaft der Menschen" gegenüber und in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts nahmen solche Gedanken dank der Entwicklung des Internet neue Formen an. Die Bewegung der Cypherpunks, an deren Mailinglisten auch Assange teilnahm, wies auf eine Asymmetrie hin, die darin bestand, dass der moderne Staat möglichst viel von der Kommunikation seiner Bürger zu überwachen versuche, zugleich aber möglichst viel vor eben diesen Bürgern geheimhalte, und sah in den modernen Technologien, dem Cyberspace, eine ganz neue Möglichkeit, dieses Verhältnis zu korrigieren. Mit moderner Kryptographie könnten die Bürger ihre Privatsphäre schützen und der Staat müsse seine Kontrolle auf die "Enklave der Dinge-die-er-kontrollieren-kann" beschränken, wie es Timothy C. May im "Kryptoanarchistischen Manifest" aus dem Jahr 1992 formulierte.
Von solchen Überlegungen war Julian Assange geleitet, als WikiLeaks zum Beispiel ein Video veröffentliche, das Mitschnitte aus der Bordkamera eines Apache-Hubschrauber der US-Armee über Bagdad zeigte. Es belegt, wie die Soldaten aus dem Hubschrauber irrtümlich Journalisten der Agentur Reuters erschießen sowie weitere Zivilisten, die die Opfern des ersten Angriffs versorgen wollen. Danach wird eine Rakete auf ein ziviles Gebäude abgefeuert, in dem ebenfalls mehrere Menschen den Tod finden. Mit dem Video, das gekürzt unter dem Titel "Collateral Murder" veröffentlicht wurde, erregte Assange großes Aufsehen. In den Jahren zwischen 2007 und 2010 wurden zahlreiche Geheimnisse von Militärs, Regierungen und Banken über die Plattform WikiLeaks dem Licht der Öffentlichkeit preisgegeben, darunter gut 100.000 geheime diplomatische Depeschen der USA und zuletzt brisante Akten aus dem Gefangenenlager der USA in Guantanamo.
Ohne Geheimisse. Dass Julian Assange, über dessen Auslieferung von Großbritannien nach Schweden wegen Vorwürfen der Vergewaltigung im Juli entschieden werden soll, in der Welt der Regierungsfunktionäre, Diplomaten und Bankmanager wenig beliebt ist, versteht sich von selbst. Dass in diesen Kreisen Stimmen laut werden, die ihn als Terroisten einstufen und seine Ermordung fordern, scheint durchaus das düstere Weltbild, das hinter seinen Unternehmungen steht, zu bestätigen.
Es gibt aber auch Kritiker, die einstmals der Szene der digitalen Aufrührer nahestanden und in ihm keineswegs einen modernen Robin Hood sehen. Einer von ihnen ist Jaron Lanier, der Mann, der das Wort "Virtuelle Realität" prägte, der Bürgerrechtsbewegung in den USA nahesteht und sich immer wieder für Akte des zivilen Ungehorsams eingesetzt hat. Die Vorstellung, dass "ein Zuwachs an Informationen im Internet die Welt automatisch besser und die Menschen freier" mache, wie sie von Assange propagiert wird, ist in seinen Augen bestenfalls gefährlich naiv. "Wäre eine Welt ohne Geheimnisse gerechter oder mitfühlender?", fragt er. Er nennt als seine Vorbilder Nelson Mandela, Mathama Gandhi und Martin Luther King und entdeckt im Gegensatz zu solchen Gestalten bei der Bewegung rund um Assange und die Plattform WikiLeaks die "Ideologie der selbstherrlichen Nerds", die der "alten Blockwartmentalität" sehr nahe komme, das bloße Streben nach Macht und Kontrolle mit Mitteln des Informationszeitalters.
Dem radikalen Enthüllen von Geheimnissen setzt ein Kritiker wie Lanier die Notwendigkeit zivilisierter Strukturen entgegen. "Solange ein Geheimnis nicht von vitaler Bedeutung für andere Menschen ist, hat jeder ein Recht auf Privatsphäre. Ist das Geheimnis hingegen von vitaler Bedeutung für andere, dann ist es legitim, dass es innerhalb der Grenzen gut funktionierender demokratischer Prozesse von Personen gehütet wird, die dazu befugt sind und dann auch zur Rechenschaft gezogen werden können." Den wichtigsten Kritikpunkt am Tun von Assange sieht Lanier in Willkür eines Einzelnen, der Entscheidung von dramatischen Ausmaß nach seinem eigenen Gutdünken trifft.
Buchtipp.
WikiLeaks und die Folgen.
Die Hintergründe.
Die Konsequenzen.
Edition suhrkamp, 2011;
235 Seiten