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Geht der Held vor die Hunde?

Von Rolf-Bernhard Essig

Wissen

Nicht jeder, der ein T-Shirt mit der Aufschrift "Held" trägt, ist auch schon ein Held. Gibt es überhaupt noch Helden wie den sagenhaften Herakles?


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Helden ziehen an. Man kann sich aber auch heldenhaft anziehen, wie eine Firma verspricht. "Die Marke Österreichs Helden steht dafür, dass Werte und Moral in unserer Arbeitswelt wieder Priorität haben müssen." Die Zielsetzung dieser Wirtschaftshelden, welche T-Shirts mit der Aufschrift "Mutige Tirolerin" oder "Kernölrebell" verkaufen, klingt gut. Aber ist es mit dem Begriff so weit gekommen, dass Textil-Produktion ausschließlich in Österreich schon zum Helden macht?

Es ist noch weiter mit ihm gekommen. 40.000 junge Leute erhalten von einem Radiosender blaue T-Shirts mit dem weißen Aufdruck "Heldin" oder "Held", weil sie Müll gesammelt oder Spielplätze renoviert haben. Fußballtrainer fordern von ihren Spielern, "Helden" zu sein. Fernsehserien heißen "Heroes", und Kinofilme zeigen Batman, Spiderman, Ironman oder Superman. Dominik Brunner, der in der Münchner S-Bahn Kinder vor jugendlichen Erpressern schützen wollte und dabei zu Tode kam, nannten die Medien bald nur noch "S-Bahn-Held". Und dann gibt es den Spottspruch: "Na, du bist mir ein Held!"

Nebulöse Vergangenheit.

Man weiß noch nicht einmal viel über die Herkunft der Wörter "Held" oder "Heros". Natürlich steht außer Frage, dass "Heros" im Altgriechischen den "heldenhaften Mann" bezeichnete oder den "Halbgott". Um so erstaunlicher, dass viele eine Frau am Wortursprung vermuten: Hera. Umstrittene Himmelsmutter im Olymp, ewig betrogene Schutzgöttin der Ehe; wahrlich eine heroische Gestalt! Und wen säugte Hera aus Versehen? Den berühmtesten Helden der letzten 3000 Jahre: Herakles. Hera und Heros scheinen sich in dem Namen zu vereinen. Man kann ihn mit "Hera-Ruhm" übersetzen oder mit "Heras Ruhm", mit "das ruhmreiche Geschenk Heras" oder mit "der, der sich an Hera Ruhm erwarb". Bedeutungsvarianten und Spekulationen türmen sich auf.

Immerhin belegt der prototypische Herakles, wie schillernd herausragende Menschen sind. Er überragt andere an innerer wie äußerer Größe. Er kämpft gegen Ungeheuer, Titanen, böse Menschen und für seine Unsterblichkeit. Doch seinen Tugenden stehen unübersehbar Fehler, ja Laster gegenüber: Jähzorn, Geilheit und mächtiger Appetit.

Der gestutzte Held als mythischer Gewinn.

Herakles befindet sich in guter Gesellschaft. Seit der Antike wimmelt es von Helden, die sich lächerlich machen oder ihren Ruhm durch Schandtaten beschädigen. Das gilt für Achilles, Ajax, Agamemnon und Odysseus im Mythischen, für Alexander den Großen, Cäsar, Friedrich II. von Staufen, Richard Löwenherz, Napoleon oder Winston Churchill im Bereich der historischen Helden. Selbst ihre Bewunderer geben zu, dass diese großen Männer kleinliche Regungen kannten, grausame dazu. Der alte Satz bleibt wahr: "Man muss ein großer Held sein, um es auch in den Augen seines Kammerdieners zu sein."

Des Helden "moralische backside", wie Georg Christoph Lichtenberg es nannte, weckt Neugier wie Spottlust. Scheinbar entlarven die Verfehlungen den Übermenschen als nur allzu menschlich. Gleichzeitig ermöglichen sie es erst, spannende Geschichten zu erzählen, denn die Verfehlungen der Heroen bieten ihnen Gelegenheit zu Bewährung, zu einem erneuten, noch höheren Aufstieg: durch Selbsterkenntnis und Selbstüberwindung. Religiöse Märtyrerdramen langweilen vor allem deshalb, weil die Protagonisten, übrigens oft Frauen, sich selbst und Gott treu bleiben, sich unwandelbar zu Tode piesacken lassen.

Judith, Johanna, Angelina Jolie?

Immerhin boten diese frommen Frauen Vorbilder für den weiblichen Teil der Menschheit an. Eine religiöse Heldin wie Judith, die - mutiger als alle Männer - dem Feldherrn Holofernes den Kopf verdreht, um ihn dann abzuschlagen, gab ein Beispiel, dass Frauen sich über soziale Regeln hinwegsetzen konnten, wenn sie höheren Zielen folgten. Die Jungfrau von Orleans kam zwar erst spät zur Ehre, Nationalheilige zu werden, doch schon in den Jahrhunderten vor dem Zweiten Weltkrieg bot auch sie Frauen eine Projektionsfläche für geschlechtsspezifischen Stolz.

Im Bereich des Glaubens und dem der Familie durften Frauen Helden sein. Dank oder Ehre kamen für sie spät, selten oder nie. Und dann erzählt man häufig über tapfere Frauen bloß rührende Geschichten, in denen sie statt als planende bloß als gefühlsgeleitete, spontan handelnde Heldinnen geschildert werden.

Zum Beispiel Rosa Parks. Deren Rolle im "Montgomery Bus Streik" von 1955, der zu einem entscheidenden Etappensieg gegen die rassistische Gesetzgebung vieler US-Staaten führte, wird in den meisten Berichten kleingeredet: Sie wäre nur eine Näherin gewesen, die es eines Tags müde war, einem Weißen ihren Platz im Bus zu überlassen. Dass sie schon Jahre vorher gegen die Diskriminierung gekämpft hatte, dass ihre Verhaftung im Bus und der folgende Prozess einem wohlüberlegten Plan folgten, für dessen Gelingen Rosa Parks unverzichtbar war, unterschlagen Schul- und Geschichtsbücher gern. Ein geradezu programmatischer Fall für die Degradierung weiblichen Heldentums. Heldinnen haben bis heute gegen die Klischees zu kämpfen, wenn sie nicht wie Mutter Teresa oder die Mütter vom Mai-Platz in Buenos Aires traditionelle Werte verfolgen und friedliche Kampfmethoden anwenden. Selbst die Argentinierinnen verhöhnten freilich in den 70ern viele heimische Medien als "verrückte Frauen", weil sie ihren angestammten Platz im Haushalt verließen und demonstrierten, um endlich irgendetwas über das Schicksal ihrer von der Militärjunta entführten Kinder und Enkel zu erfahren.

In der Fiktion sieht es etwas anders aus. In Filmen und Büchern haben waffenstarrende Heldinnen Konjunktur, nicht nur im Fantasy-Genre. Dass Angelina Jolie eine der berühmtesten Personen der Gegenwart ist, hat ohne Zweifel mit ihrer Verkörperung schlagkräftiger und tödlicher Frauenfiguren wie Lara Croft oder Mrs. Smith zu tun. Dabei spielt natürlich ein spezifischer Fetischismus hinein. Um so schöner, wie intelligent und vielschichtig Bettina Rheims das Thema in ihrer Fotoserie "Héroïnes" beleuchtet: aktuelle Super-Models in sehr traditionellen Posen, scheinbar ungeschminkt und doch hochinszeniert, Schönheitsideale mit zur Schau gestellten Schönheitsfehlern. Die Heroine bleibt gleichwohl auf dem realen Schlachtfeld wie in den Medien die Ausnahme.

Der Gewappnete oder der Hirte?

So definiert denn auch das etymologische Wörterbuch Wolfgang Pfeifers "Held" als "durch kühne Taten sich auszeichnenden Mann, tapferen Kämpfer". Ähnlich wie im Griechischen ist es unmöglich, die Wortherkunft exakt zu benennen. Im Althochdeutschen des 9. Jahrhunderts gibt es "helid", doch dessen germanische Vorformen sind nur erschlossen. Es könnte eine indoeuropäische Wurzel "kel-" für "treiben, antreiben" am Beginn stehen. Dann könnte das Wort einen verteidigungsbereiten Hirten bezeichnet haben. Im etymologischen Wörterbuch Friedrich Kluges vermutet man dagegen eine Verbindung mit dem althochdeutschen "helan", das "bergen, schützen" bedeuten kann und erklärt die mögliche Grundbedeutung von "Held" als ein in der Rüstung Geborgener. Beides sind bloß Spekulationen.

Sicher ist sich die Sprachwissenschaft, dass man sich seit dem 18. Jahrhundert in den deutschsprachigen Ländern am englischen Gebrauch von "hero" ein Beispiel nahm und "Held" nun auch als Bezeichnung eines Protagonisten in Büchern oder auf der Bühne verwendete. Damit war der Weg gebahnt, auf dem eine immer buntere Heldenschar sich tummeln konnte. Schließlich kamen auch komische Hauptpersonen vor, widerwärtige und unheroische: Der Antiheld feierte Erfolge. Dem Urahn Don Quijote eiferten in der Aufklärung Tristram Shandy oder Candide nach. Und spätestens seit diesen frechen und witzigen Relativierungen des Heldenbegriffs tobt eine Debatte um die Notwendigkeit des Helden.

Es glich schon einer Art Gehirnwäsche, wenn in den militärisch geprägten Gesellschaften, besonders um 1914 und 1939, immer wieder reizvoll dargestellt wurde, wie süß es sei, für das Vaterland heldenhaft zu sterben. Deshalb verordnete man nach 1945 in Deutschland und Österreich Misstrauen gegenüber großen Worten wie "Vaterland", "das Leben opfern", "Mannhaftigkeit". Für einige Jahrzehnte wurde das Wort "Held" außerhalb des Sports und der Kunst deutlich seltener verwendet, Zivilcourage hieß der neue Wert. Generationen lernten, dem Begriff "Held" mit Bertolt Brecht zu misstrauen. In dessen Drama "Das Leben des Galilei" sagt eine Figur: "Unglücklich das Land, das keine Helden hat." Eine andere widerspricht: "Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat."

Fukushima-Monogatari.

Japan ist so ein Land. Als die Welt im März verzweifelt, ja fast schon hysterisch auf verlässliche Informationen aus den explodierten AKW-Komplex Fukushima gierte, lief eine Sensation über die Live-Ticker: Ein paar Helden nähmen Todesgefahren auf sich, um im Reaktor zu retten, was zu retten wäre. Japan hat eine große Tradition des mündlichen Erzählens, "monogatari" genannt, und auch diesmal hatte es Erfolg; weltweit. Die Atom-Helden-Geschichte lenkte einige Zeit ab von den Tepco-Vertuschungen, den technischen und organisatorischen Katastrophen.

Das aktuelle Beispiel beweist schlagend, wie ideal Heldengeschichten den Bedürfnissen moderner Massenmedien und professioneller PR entsprechen, mit ihren Trends des Sensationalismus, der Personalisierung und der Skandalisierung. Das macht den Helden so beliebt in den letzten zwanzig Jahren und führt zu einem inflationären Gebrauch des Begriffs. Offensichtlich zerfasert er deshalb, gleicht zunehmend einem Joker-Wort, dessen Bedeutung sich je nach Situation und Sprecher extrem unterscheidet.

Konservative Kreise stemmen sich mit Macht gegen Wertverlust und Relativierung des Heroischen, so in dem geistvollen Sonderheft der Zeitschrift "Merkur" zum Helden (2009). Karl Heinz Bohrer, Norbert Bolz und andere beharren hier auf der Unverzichtbarkeit des Heroischen, gerade für nivellierende demokratische Mediengesellschaften. Bolz schreibt: "Heroismus berührt das Mysterium des Lebens." Und: "Der Held ist das Über-sich-hinaus des Menschen." Liest man die "Merkur"-Aufsätze in Verbindung mit dem Essayband zur große Helden-Ausstellung in Hattingen mit dem Titel "Die Helden-Maschine" wird allerdings klar, wie komplex die Thematik ist; erst recht, wenn man sich vom Eurozentrismus löst.

Der Reiz des klassischen Helden wird schon deshalb bleiben. Seine Selbstlosigkeit, zieht viele an, seine Einfachheit und Direktheit. Als Übermensch verachtet er rücksichtslos Regeln, Vernunft und erst mühsam zu klärende Sachfragen. Er ist ja geradezu die Verkörperung der Ausnahme, des rettenden Wunders. Doch die Welt ist seit langer Zeit deutlich zu komplex, um durch simple Lösungen gerettet zu werden.