Erpressung, manipulierte Medien, Phantomwähler: Menschenrechtler Xhabir Deralla über Wahlmanipulation.
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Seit Mazedoniens Opposition unter ihrem Anführer Zoran Zaev begonnen hat, heimlich abgehörte Gespräche der Regierung - die Zaev "Bomben" nennt - zu publizieren, hat sich der Verdacht erhärtet, dass die Partei von Premierminister Nikola Gruevski (VMRO-DPMNE) die letzten Wahlen manipuliert hat. Das Land steckt in einer Krise, nach heftigen Protesten verhandeln Opposition und Regierung unter Vermittlung von EU-Nachbarschaftskommissar Johannes Hahn. Eine Übergangsregierung steht im Raum, nächstes Jahr sollen Neuwahlen stattfinden. Der Menschenrechtsaktivist Xhabir Deralla hat die vorangegangenen Wahlen beobachtet und spricht über massive Manipulationen. Der Mittvierziger ist im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" deutlich gezeichnet von den Anstrengungen der letzten Wochen. Er raucht viel, trinkt Kaffee vorzugsweise schwarz und die Falten um seine Augen sind tief.
"Wiener Zeitung": Oppositionschef Zoran Zaev hat Premier Nikola Gruevski wiederholt der Wahlfälschung beschuldigt. Gibt es tatsächlich Hinweise auf Wahlbetrug?Xhabir Deralla: Unsere Organisation "Civil" beobachtet Wahlen nicht nur am Wahltag selbst, sondern von einem langfristigen Gesichtspunkt aus. Mazedonien leidet unter einer Geiselnahme des gesamten Staates durch die regierenden Parteien. In einem Land, in dem alles so politisiert ist und das unter so starker Parteikontrolle steht, gibt es keine Möglichkeit für wirklich freie und demokratische Wahlen.
Wie äußert sich das?
Seit 2008 leben wir in einer kontinuierlichen Wahlkampagne. Man kann nicht mehr unterscheiden, was Wahlkampf ist und was normaler politischer Alltag. Die Regierungspartei von Gruevski bestimmt das Tempo und die Dynamik der gesamten Gesellschaft. Wenn man bedenkt, dass sich bis auf eine Tageszeitung und ein paar Radiosender alle privaten und öffentlich-rechtlichen Medien unter der Kontrolle dieser Partei befinden, kann man sich ausrechnen, was das bedeutet. Die Opposition ist geradezu unsichtbar im öffentlichen Diskurs. Sogar jetzt, mit all den Protesten und Leaks, kommt sie kaum vor. Die Regierung macht einfach weiter, als wäre nichts geschehen, und diese Sender berichten über gesunde Ernährung und neue Pflasterung von Plätzen. Es ist eine 1984-Situation, wie in George Orwells Roman. Die Gesellschaft wird Opfer einer einzigen Illusion.
Was konnten Sie und Ihre Mitarbeiter bei den letzten Wahlen beobachten?
Nicht nur die politische Opposition hat Beweise für Wahlfälschungen bei den Wahlen 2011, 2013 und 2014. Alle drei Prozesse waren gravierend manipuliert, geradezu illegitim. Der Betrug geschieht über eine lange Zeit und nicht punktuell, deshalb ist der Wahltag selbst meist ruhig und technisch gesehen quasi anständig. Aber mittel- und langfristig sehen wir eine enorme strukturelle Gewaltausübung und Manipulation der Wähler. Zusätzlich gibt es Beweise und Zeugenaussagen darüber, dass es eine riesige Anzahl an Phantomwählern gab. In einer Zeitspanne von nur zwei Wochen haben wir bis zu 10.000 registrierte Wähler entdeckt, die in Wirklichkeit nicht existieren.
Wie funktioniert das genau? Wie werden deren Stimmen gezählt?
Stellen Sie sich ein Gebäude mit zwei Stiegen und vier Stockwerken vor, das etwa 50 Wähler beherbergt. Schaut man ins Wählerverzeichnis, was wir natürlich nicht dürfen, aber durch ein paar investigative Methoden geschafft haben, dann ist dort dasselbe Gebäude aufgeführt, nur dass es darin sechs Stockwerke, sieben Eingänge und fast 400 Wähler hat. Wir haben auch ganze Gebäude darin entdeckt, die überhaupt nicht existieren.
Und bei der Wahl selbst? Wer wählt für diese Leute?
Menschen wählen mit verschiedenen Ausweisen, haben mehrere Pässe, die sie vom Parteipersonal bekommen. Es werden auch Mazedonier aus Albanien hergebracht, die hier wählen, als ob sie in einem dieser nicht-existenten Häuser wohnen würden. Wir haben solche Dinge in mehreren Städten gefunden, in Skopje, Kumanovo, Ohrid. Wir waren uns nicht in allen Fällen ganz sicher und haben ein wenig Selbstzensur betrieben, auch weil der Wahlbetrug so spektakulär war, dass unsere Spender uns für verrückt erklärt hätten. Aber seit den veröffentlichten "Bomben" der Opposition wissen wir, dass wir recht hatten und sind auf eine bittere Art stolz, dass wir es schon vorher wussten.
Sie haben auch von struktureller Gewalt gesprochen...
Jede Person, die für die Verwaltung arbeitet, mit jemandem verwandt ist, der dort arbeitet, Sozialhilfe, Pension oder Kindergeld empfängt, ist ein Kunde eines repressiven Systems. Unabhängig davon, ob man per Gesetz zu diesen Leistungen berechtigt ist, hat die Regierung Mittel und Wege, all diese Dinge einzuschränken. Rechtsstaat? Vergessen Sie’s! Jede Person, die irgendwie mit der Verwaltung zu tun hat, bekommt eine Liste der Wähler in ihrem Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis, die noch unentschlossen sind, und hat dann die Aufgabe, sie davon zu überzeugen, für die "richtige" Partei zu wählen. Die Regierung spioniert die Menschen aus, um herauszufinden, wen sie auf diese Listen schreiben sollen. Du musst sie überzeugen, damit du dein Kindergeld nicht verlierst.
Wie kann eine Partei kontrollieren, ob jemand die Menschen auf seiner Liste wirklich überzeugt hat?
Es gibt verschiedene Wege. Speziell in kleinen Wahlkreisen ist das leicht. Man kann es ausrechnen, wenn man weiß, wer wie viele Leute auf der Liste hatte und das dann mit dem Wahlergebnis aus einem bestimmten Wahlkreis vergleicht. Auch hier wird wieder spioniert, ob man seinen Job gut gemacht hat. Hast du es nicht gut gemacht, kannst du deinen Job verlieren, die Sozialhilfe, die Agrarsubvention. Vielleicht bekommt dein Kind kein Stipendium oder wird in der Schule isoliert und von den Lehrern getriezt.
Sind Sie wegen Ihrer Arbeit irgendwelchem Druck von Regierungsseite ausgesetzt?
Der Druck ist enorm. Wir erhalten Morddrohungen gegen uns selbst und unsere Familien. Ich bin nicht der Einzige, aber wenn es um Dinge wie Rechtsstaat, Wahlen, Demokratie und Menschenrechte geht, bin ich wohl eines der beliebtesten Ziele der Regierung. Heute bin ich es gewohnt, tagein tagaus öffentlich gekreuzigt zu werden.
Xhabir Deralla ist einer der bekanntesten Menschenrechtsaktivisten Mazedoniens. Mit seiner Organisation "Civil" untersucht er regelmäßig die Wahlen in Mazedonien.