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Ein Waggon sucht einen Täter: So oder so ähnlich hat sich das kürzlich ein Zugführer vorgestellt. Er hat die Rechnung ohne die Wiener gemacht.
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Ein interessantes Feldexperiment der sozialen Art ereignete sich
vor einigen Tagen in der Wiener U-Bahn-Linie U1. Die Garnitur ist fertig zur Abfahrt, die Türen sind im Begriff zu schließen - und plötzlich sprintet ein junger Mann dazwischen, reißt an den Türgriffen und schlüpft so gerade noch in den Waggon.
Sportlich eine durchaus bemerkenswerte Leistung, allerdings natürlich höchst gegen sämtliche Vorschriften der Wiener Linien wie auch aller anderen Dienstleister im öffentlichen Personennahverkehr. Weil: Nach Abfertigung des Zuges ist das Zusteigen strengstens untersagt. Passieren tut es dennoch tagtäglich sonder Zahl. Der Mensch ist nun einmal so. Wenn sich vor einem die Türen zu schließen beginnen, will man unbedingt noch hineinschlüpfen. Darauf sind wir offensichtlich programmiert, stammgehirntechnisch gesprochen.
Ganz und gar nicht alltäglich war dagegen die Reaktion des Mannes im U-Bahn-Führerstand. Mit geradezu aufreizend ruhiger Stimme wandte er sich via Lautsprecher an den eben regelwidrig zugestiegenen jungen Mann und forderte ihn auf, doch bitte wieder auszusteigen. Ansonsten nämlich werde es kein Weiterfahren geben.
Interessanter Ansatz: die Weiterfahrt von geschätzten 500 Beförderungsobjekten im Gegenzug für die Sanktionierung eines regelwidrigen Verhaltens.
Würde das so bloßgestellte Individuum seinen Fehler bekennen und reumütig aus dem Waggon abziehen? Würden seine Mitpassagiere von Schicksalsgenossen zu Gegnern, den Regelbrecher zur Rechenschaft ziehen und sich also als Bürger zu bloßen Erfüllungsgehilfen der Obrigkeit degradieren lassen? Oder würden sie sich der Geiselnahme durch den Zugführer verwehren und stattdessen Solidarität mt dem Einzelnen walten lassen? Alles spannende Fragen.
Es geschah - wie in Wien nicht anders zu erwarten - vorerst nichts. Das heißt: Weder zeigte sich der inkriminierte junge Mann einsichtig, noch wurde der Ertappte von einer aufgebrachten Menge zum Aussteigen aufgefordert. Das Nichts dauerte eine kleine gefühlte Ewigkeit lang, in Echtzeit also geschätzte zwei Minuten.
Dann meldete sich wieder die Stimme des Zugführers. Erneut total entspannt und diesmal mit den Worten: "Also ich hab’ ja Zeit."
Das konnte man zwar für den Rest der Menschen in der U-Bahn-Garnitur mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen, dennoch tat sich weiter nichts. Und wenn, dann begann sich die Stimmung - ansatzweise zumindest - gegen den Zugführer zu wenden. Dem Wiener an sich liegt ja das offen Revolutionäre nicht wirklich, jedenfalls nicht gegen die städtische Obrigkeit. Aber geraunzt wurde gegen den "Chef da vorn" sehr wohl, deutlich vernehmbar sogar.
An der Faktenlage änderte sich jedoch nichts: Der junge Mann blieb weiter sitzen.
Nach einer weiteren kleinen gefühlten Ewigkeit hatte der Zugführer schließlich ein Einsehen. Ohne einen weiteren Kommentar schlossen sich plötzlich die Türen, und die Fahrt ging weiter.