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Er starb, wie er gelebt hatte: als Draufgänger und exzentrischer Provokateur, der mitunter der eigenen Lebensflamme gern einen kräftigen Atemstoß versetzte. Nicht weniger als elf Mal hatte er durch Duellforderungen ein Schicksalsgericht für sich angerufen. Gern hatte er der Versuchung nachgegeben, seinen Selbsterhaltungstrieb in die Schlacht mit den destruktiven Mächten der Selbstanfeindung zu schicken. Mutwille war sein Lebenselixier, Reizbarkeit das Aufputschmittel darin.
Vor 175 Jahren wurde Alexander Sergejewitsch Puschkin sein Leichtsinn zum Verhängnis. Der russische Nationaldichter ließ sich dazu hinreißen, einen französischen Gardeoffizier mit zweifelhaftem Leumund, dem eine Beziehung zu Puschkins Frau nachgesagt wurde, gegen alle Warnungen - selbst des Zaren - zum Duell zu fordern. Am 8. Februar 1837 fand vor den Toren St. Petersburgs der Zweikampf mit Pistolen statt. Gleich mit dem ersten Schuss brachte der Franzose dem 37-jährigen Dichter eine tödliche Verwundung bei, an der Puschkin zwei Tage später, am 10. Februar 1837 nach gregorianischer Zeitrechnung, starb. Er hatte noch zurückgeschossen, seinen Gegner aber nur leicht verletzt.
Kreative Erotik
Alexander Puschkin starb im selben Lebensalter wie Mozart, mit dem ihn nicht nur eine tiefe Seelenverwandtschaft, sondern auch die herausfordernd quirlige Impulsivität verband. Beide schwankten in ihrem von kreativer Erotik beherrschten kurzen Leben zwischen der Anpassung als Fürstendiener und dem Aufstand als freie, nur ihrem Genius verpflichtete Künstler. Puschkin hat über Mozart, indem er das haltlose, aus Wien bis nach Petersburg vorgedrungene Gerücht von Mozarts Ermordung durch seinen neidvollen Konkurrenten Salieri aufgriff, den Einakter "Mozart und Salieri" verfasst. Darin heißt es voll sehnsüchtiger Identifikation: "Wir sind wenige Auserwählte, müßige Glückskinder, / die sich über den schnöden Nutzen hinwegsetzen, / Diener des einzig Herrlichen."
Puschkin war zeitlebens eine brennende Fackel gewesen, sprunghaft, einfallsreich, wortgewaltig. Mit diesen Eigenschaften wurde er nicht nur der größte russische Dichter, sondern auch der Urheber der neueren literarischen Kultur seines Volkes. In allen Gattungen der Dichtkunst - in Lyrik, Drama, Versepik, Prosaerzählung, Romanfragment, historischer Darstellung, Aufsatz- und Briefkunst - wurden seine Werke wegweisend. Mit untrüglichem Gespür für die Ausdrucksvielfalt seiner Sprache spielte er virtuos auf deren Klaviatur, zog er zwischen hohem Kirchenslawisch, geschmeidigem Salonton und zupackender Volkssprache je nach stilistischer Angemessenheit die Register. Sein sprachschöpferisches Ingenium erwies sich als bahnbrechend für die Festigung des russischen Idioms als Kultursprache. Mit ihr eroberte Puschkin als Pionier die Weltliteratur.
Er maß sich an den Besten. Shakespeare, Voltaire und Goethe gehörten zu seinen literarischen Hausgöttern. Sie alle hatte er, teilweise schon als Knabe, in der väterlichen Bibliothek, dann im überaus anspruchsvollen Lyzeum von Zarskoje Selo, zumeist im Original verschlungen: Der 1799 in Moskau geborene Adelsspross aus uraltem Bojarengeschlecht, der mit Französisch aufgewachsen war, verfügte in nahezu sämtlichen europäischen Kultursprachen über ausreichende Kenntnisse. Bei nicht wenigen Dichtern hatte er die Herausforderung gesucht, ihnen in eigenen Werken, in Gegenstücken, Variationen, Kontrafakturen Paroli zu bieten, ja, sie sogar zu übertreffen.
Lord Byron war lange Zeit sein Vorbild und Idol. Mit dem polnischen Nationaldichter Adam Mickiewicz, den er bewunderte, war er in Petersburg zunächst befreundet. Nach der Niederschlagung des polnischen Aufstands 1830 durch die russischen Truppen entzweite man sich allerdings gründlich: Puschkin hatte den Aufstand durch Schmähgedichte verunglimpft.
Exotische Herkunft
Denn das konnte Puschkin auch sein: ein glühender Patriot, der für sein Land keine andere Geschichte ersehnte als jene, die es hatte. Doch im Handumdrehen konnte er es wiederum verwünschen, dort seine Heimat gefunden zu haben: "Der Teufel hat es gewollt, dass ich mit Seele und Talent in Russland zur Welt gekommen bin", schrieb er 1836, nach einschlägigen Erfahrungen, über die Zensur in seinem Land.
Puschkin hat sich als Dichter in allen möglichen Formen meisterhaft bewährt. Doch den mit großen Spannungsbögen versehenen Roman, den er nie vollends bewältigen konnte, stellt sein Leben dar. Schon seine Abstammung enthält einen Schuss ins märchenhaft Exotische. Sein Urgroßvater mütterlicherseits war "der Mohr des Zaren": Bereits hundert Jahre vor Angelo Soliman, der am Wiener Hof die Toleranz des aufgeklärten Absolutismus verkörpern durfte, hielt sich Zar Peter der Große 1704 den abessinischen Fürstensohn Ibrahim Hannibal als fremdartigen Günstling. Der war als Kind von den Türken geraubt und im Serail in Konstantinopel als Geisel gefangengehalten worden, wo ihn der russische Gesandte freigekauft und dem Zaren als Geschenk nach Petersburg mitgebracht hatte.
Puschkin war stolz auf sein "afrikanisches Blut" und wandte sich diesem Kapitel seiner Familiengeschichte sowohl in einem autobiographischen Fragment wie auch in der ebenfalls unabgeschlossenen Prosadichtung "Der Mohr Peters des Großen" zu. Dort heißt es über seinen Urgroßvater: "Er war (. . .) groß und prächtig gewachsen, und die meisten Damen ließen ihre Blicke mit Empfindungen auf ihm ruhen, die weit schmeichelhafter waren als bloße Neugier."
Das war zugleich seine eigene Wunschvorstellung, denn er selber war schmächtig, ein dunkelhäutiger Krauskopf mit blauen Augen und flacher Nase, der sich die Neugier und Zuneigung unzähliger Damen durch Leidenschaft und Charme zu erwerben wusste. In "Eugen Onegin" wird es später heißen: "Warum liebt die junge Desdemona / ihren Mohren so, wie der Mond / die Dunkelheit der Nacht liebt?"
Puschkin war 27-jährig, als er sich entlang seiner Familiengeschichte der Historie Peters, des Begründers eines neuen Russlands, zuwandte. Dessen Pioniertaten schilderte er aus der Sicht seines schwarzen Ahnen als vorbildhaft: "Er begleitete seinen kaiserlichen Herrn, wenn dieser die Fabrik eines Kaufmanns, einen Handwerker an der Drehbank oder einen Gelehrten in seinem Arbeitszimmer besuchte. Russland kam Ibrahim wie eine riesige Werkstatt vor, in der sich unzählige Maschinen bewegten und jeder Arbeiter, fest gefügt in die neue Ordnung, seine bestimmte Beschäftigung hatte." Das liest sich wie ein Fürstenspiegel, in dem sich der neue Zar Nikolai I. wiedererkennen sollte. Von seinem Vorgänger Alexander I., der 1825 verstorben war, hatte Puschkin nur Unbill erfahren.
Als jugendlicher Freiheitsherold hatte er sich in literarischen Zirkeln Petersburgs einen Namen als Verfasser politischer Epigramme sowie satirischer Schmäh- und Spottverse erworben. Unverblümt kritisierte er darin den Zaren und seine Regierung: "Russland wird sich vom Schlaf erholen, / und auf die Trümmer der Selbstherrschaft / wird man unsere Namen schreiben". In der "Freiheitsode" des 19-Jährigen heißt es, in Sinn und Tonfall nahe an Schiller: "Nur dort wird sich der Völker Leid / Nicht auf die Fürsten niedersenken / Wo mächtige Gesetzlichkeit / Und heilige Freiheit sich verschränken."
Die aufrührerischen Verse Puschkins waren bei der Jeunesse dorée von Petersburg bald in aller Munde, so dass der Zar über den Dichter als Strafsanktion die Verbannung verhängte, mit der Begründung, er "habe Russland mit seinen ungeheuerlichen Gedichten überflutet". Beinahe wäre er nach Sibirien geschickt worden, doch nach heftigen Interventionen einflussreicher Freunde wurde der Delinquent durch kaiserlichen Erlass 1820 nach Bessarabien strafversetzt. Später, am Schwarzen Meer, schrieb er sehnsüchtige Briefe an seine Petersburger Freunde und erinnerte sich in einer Elegie an Ovids ähnliches Schicksal als Exilant an den Gestaden desselben Meeres. Drei Jahre lang war er verbannt, bevor er auf das elterliche Landgut Michailowskoje entlassen wurde. Auch dort blieb er weiterhin unter behördlicher Aufsicht.
Indes, inmitten des Exils und der gedrückten Stimmung dichtete Puschkin - selbstsicherer, aber auch einsamer denn je - wesentliche Teile seines Frühwerks: "Der Gefangene im Kaukasus", "Die Zigeuner", "Boris Godunow", auch den Anfang seines Meisterwerks "Eugen Onegin", in dem er erstmals in der russischen Literatur Menschen aus der unmittelbaren Gegenwart, aus der Petersburger und Moskauer Gesellschaft seiner Zeit, auftreten ließ.
Der Zar als Zensor
Die erzwungene Abwesenheit von Petersburg rettete ihn vor den überaus harten Straffolgen des missglückten Dekabristen-Aufstands, an dem viele seiner Freunde am 14. Dezember 1825 beteiligt waren. Stattdessen nahm sich der neue Zar Nikolai I., der Puschkin für "den klügsten Mann Russlands" hielt, seiner so an, dass dem Dichter beinahe die Luft zum freien Atmen fehlte: Der Zar wurde sein persönlicher Zensor.
Puschkins Haltung zum Zarentum blieb ambivalent. Gern wich er aufs Land aus - oder er reiste in den Süden und sehnte sich nach der schönen Moskauerin Natalja Gontscharowa, die er erst nach langer Wartefrist ehelichen konnte: "Auf den Hügeln Grusiniens liegt nächtlicher Nebel./ Ich höre den Aragwi schäumen./ Mir ist traurig und leicht; mein Gram ist rein und klar. / All meine Seelennot / ist von dir erfüllt, von dir allein . . .", dichtet er in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens.
Kein anderer ist bis heute in Russland so sehr Dichter der Herzen wie er. Geist, Genie und Gefühl vermochte er in ebenso geschmeidiger wie ausdrucksvoller Form zu vereinen. "Ich will, dass alle mich verstehen, vom Geringen bis zum Großen", lautete sein künstlerischer Ehrgeiz. Um die russische Seele ganz zu ergründen, ließ er sich auch später noch von seiner Amme Arina Rodionowna Legenden und Märchen erzählen. Auf seinen Reisen durch Russland sog er die Eindrücke vom Landleben in sich auf.
Auf diese Weise sind Mühsal und Plagen des von Leibeigenschaft, Unterdrückung und Willkür gepeinigten bäuerlichen Alltags im Russland seiner Zeit ebenso in der Weltliteratur verankert worden wie manche Glücksstimmung solchen Daseins. Vor allem in seinen Erzählungen wird alles Rustikale und kleinräumig Lokale, das Unrecht wie das - mühsam genug - eroberte Wohlgefühl durchsichtig für das, was stets einen Teil der neueren Wortkunst bewegt hat: nämlich den Lebenskampf der Menschen, gleichgültig welcher sozialen Schicht, in das aufklärende Licht der Literatur zu stellen.
"Die Geschichte des Volkes gehört dem Dichter", hat Puschkin in seinem Volksdrama "Boris Godunow" gefordert. Die Forderung hat sich erfüllt.
Oliver vom Hove lebt als Dramaturg, Literaturwissenschafter und Publizist in Wien.