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Gejagt, gefoltert, getötet

Von WZ-Korrespondent Tobias Käufer

Politik
Das errichtete Monument zu Ehren der getöteten Demonstranten in Cali: der Puerto Resistencia, der Hafen des Widerstands.
© Tobias Käufer

In keiner anderen kolumbianischen Stadt wurden die Sozialproteste so brutal niedergeschlagen wie in Cali. Eine Reportage.


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Den Ort, an dem sie in Cali den Toten des sozialen Kampfes ein Denkmal gebaut haben, nennen sie Puerto Resistencia, Hafen des Widerstands. Es ist eine zehn Meter hoch in den Himmel ragende Faust, zu ihren Füßen sind Schilder angebracht, auf denen Namen von getöteten Demonstranten stehen. Auf einem ist zu lesen: Kevin Anthony. Getötet am 3. Mai, gleich am Anfang der Proteste gegen die kolumbianische Regierung des rechtsgerichteten Präsidenten Ivan Duque. Gestorben, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war, wie sein Vater Luis Carlos de Jesus Agudelo berichtet.

Anders als es in vielen Medien berichtet werde, habe es in Cali im Südwesten Kolumbiens keine "Konfrontation" zwischen Polizei und Demonstranten gegeben, sagt Luis Carlos. Sondern eine Jagd. Eine Jagd von Sicherheitskräften auf unbewaffnete junge Menschen. Einer davon war Kevin Anthony, Fußballer und Lehrling zum Techniker in Industrie-Elektronik. An diesem Tag im Mai hätte die Polizei den Strom abgestellt und das Internet gedrosselt, damit die Kommunikation unter den Demonstranten nicht mehr funktioniere. Dann begann der Beschuss. Aus einem Hubschrauber und von der Erde aus. Tränengas-Granaten prasselten auf die flüchtenden Demonstranten ein, offenbar auch Projektile. "Als ich ins Krankenhaus kam, sagte mir die Ärztin, dass ein Schuss seinen Brustkorb, Lunge und Herz zerstörte. Das haben sie meinem Sohn angetan."

Ein Monument zu Ehren getöteter Demonstranten in Cali: der Puerto Resistencia, der Hafen des Widerstands.
© Tobias Käufer

Kampf für soziale Gerechtigkeit, Bildung und Gesundheit

Kevin Anthony sei auf die Straße gegangen, weil er sich für ein besseres Kolumbien eingesetzt habe. Für soziale Gerechtigkeit, für den Zugang zu besserer Bildung und einem Gesundheitssystem. Für eine andere Politik in Kolumbien. Nun ist er tot. Wie Dutzende andere Demonstranten, die seit Ende April auf die Straße gegangen sind. Ein Vater weint verzweifelt um seinen Sohn, der nie wieder nach Hause zurückkehren wird.

Es sind vor allem junge Leute, die demonstrieren. Die Pandemie hat die Jugendarbeitslosigkeit noch einmal steigen lassen. "In der jungen Generation herrscht das Gefühl vor, dass sie nichts mehr zu verlieren haben. Sie glauben den vielen und viel zu häufig leeren Versprechungen der jeweiligen Regierungen nicht mehr, und sie sind daher auch bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen", sagt Kolumbien-Expertin Monika Lauer-Perez vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat zur "Wiener Zeitung".

"Sicherlich hat die Pandemie mit ihren massiven Einschränkungen dieses Gefühl noch verstärkt, und die auch davor schon äußerst düsteren Perspektiven für eine bessere Zukunft sind noch einmal schonungslos deutlich geworden. Die Forderungen werden aber nicht verstummen, sodass die Regierung gut daran täte, den gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung und weitere wichtige Veränderungen anzugehen."

In keiner anderen Stadt starben so viele Demonstranten, ging die Polizei so hart und brutal vor wie in der Hauptstadt des Departaments Valle de Cauca. In der nach Einwohnern drittgrößten Stadt Kolumbiens kämpfen bewaffnete illegale Banden, Guerillagruppen, Paramilitärs und korrupte Polizisten um die Vorherrschaft in der Stadt, die vielen durch die Serie "Narcos" von Netflix bekannt ist. Doch das hier ist keine Telenovela, das ist tödlicher Ernst. Bisweilen in einer unheilvollen Allianz mit rechtsextremen Paramilitärs, die in Zivil auf Demonstranten schossen. Geschützt und gedeckt von der Polizei.

Giovanny Garcia Garrido verlor bei den Demonstrationen ein Auge durch einen gezielten Schuss mit Tränengas.
© Tobias Käufer

Calis Erzbischof Darío de Jesus Monsalve Mejia bestätigt im Interview die Darstellung der Demonstranten: "Dass bewaffnete Zivilisten durch die Straßen von Cali gefahren sind, um zu töten oder zu verletzten, darf nicht wieder geschehen."

Gezieltes Vorgehen gegen Aktivisten und Gewerkschafter

Es hätte nicht viel gefehlt, dann würde am Denkmal für die Helden des Widerstands auch der Name von Felipe Alberto Polo Florez (23) stehen. "Blut, es war überall Blut", erinnert sich der junge Karate-Sportler, der für Kolumbien an einer Weltmeisterschaft und den Panamerikanischen Spielen teilgenommen hatte, der drei Sprachen spricht und sich als Sozialaktivist in seinem Viertel engagiert. Er war in eine Polizeikontrolle geraten. Zufällig wie er glaubte, doch die Beamten wussten offenbar genau, wer er war. "Deine Mutter ist Guerillera", sagte einer der Polizisten. "Woher kennen Sie meine Mutter", fragte Felipe erschrocken. Er war ganz offensichtlich gezielt herausgesucht worden, weil sich seine Mutter als Gewerkschafterin engagiert. Das kann bisweilen in einem Land, in dem nahezu täglich Umweltschützer oder Sozialaktivisten ermordet werden, bereits ein Todesurteil sein.

Felipe landete in der Polizeiwache Junin. Dort war der Boden voller Blut, wahrscheinlich von Folterungen, wie er vermutet. "Sie haben in die Rippen geschlagen, immer wieder. Sie schlagen nicht mehr ins Gesicht, weil man die Spuren sehen kann." Mehrere Polizisten malträtierten ihn gleichzeitig, fassten den in Handschellen gefesselten Mann überall an. Sie drohten ihm: "Wir lassen dich verschwinden, wir werfen dich in den Rio Cauca, dann wird deine Leiche aufgehen im Wasser wie ein Ballon." Felipes Glück war, dass ein zufällig vorbei kommendes Mitglied der "Primera Linea", wie sie in Kolumbien die "erste Reihe" der Demonstrationszüge nennen, filmte, wie sie Felipe in die Polizeistation brachten. Damit gab es einen Beweis. Und eine Menschenrechtsanwältin, die ihn nach Stunden der Schläge und Bedrohungen herausholte, weil gegen ihn gar nichts vorlag. Immer wieder beteuerte Felipe: "Ich bin kein Guerillero." Und zeigte seinen Militärausweis; er hatte sogar gedient. Doch das alles zählte nicht. Zum Abschied tippte ein Polizist Felipe auf die Schulter und sagte ihm: "Immer vorsichtig, mein Junge, Cali ist eine gefährliche Stadt. Besonders dein Heimweg." Felipe bekommt nun besonderen Schutz.

Maricela Cano Rendon mit einem Bild ihres getöteten Enkels Michael Joan Vargas Lopez.
© Tobias Käufer

Einer, der die Gewalt nicht überlebt hat, ist Michael Joan Vargas Lopez (23). "Sie hatten keine Waffen. Nichts", sagt seine Großmutter Maricela Cano. Michael Joan starb bei den Unruhen in Yumbo, einer Industriezone unweit von Cali. Auch in Yumbo gingen die Sicherheitskräfte brutal gegen die Demonstranten vor. Offenbar auf Wunsch von lokal ansässigen Unternehmen und der Politik, die sich von den umstrittenen Blockaden befreien wollte, mit denen ein Teil der Demonstranten die Stadt abriegelte: Nichts ging mehr rein, nichts ging mehr raus. Das war schlecht fürs Geschäft.

Canos Enkel gehörte zu einer Gruppe, die friedlich die Proteste unterstützt habe, gemeinsam mit Freunden vom Fußball. Doch dann habe die Spezialtruppe ESMAD wie aus dem Nichts auf die unbewaffneten Demonstranten geschossen, um sie auseinanderzutreiben. Und getroffen: "Er hatte ein großes Loch im Kopf, aus dem die Hirnmasse heraustropfte", erzählt seine Großmutter. Als sie von der Verletzung ihres Enkels hörte, eilte sie zum Geschehen, versuchte ein Krankenhaus mit einer Intensivstation zu finden, das ihn aufnahm. Doch es war zu spät. "Ich war bis zum letzten Moment an seiner Seite, er starb am 17. Mai um 2.50 Uhr im Spital", berichtet Cano unter Tränen und wiederholt: "Sie hatten keine Waffen."

Ringen um und zugleich Angst vor Veränderung

Einer, der für den Rest seines Lebens von den Demonstrationen gekennzeichnet bleibt, ist Giovanny Garcia (25). Der Tag, an dem ihm ein Auge aus dem Kopf geschossen wurde, war der 29. April. Er ging mit seiner Schwester und seiner Freundin zu den Protesten und geriet nach eigener Schilderung mitten in eine Straßenschlacht. "Ich wurde abgelenkt, und aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass ein Agent der Spezialeinheit aus dem Gebüsch seine Waffe auf mich richtete. Ich hörte die Detonation und fühlte den direkten Aufprall auf meinem Gesicht. Es war ein sehr harter Schlag von einem dumpfen Gegenstand. Ich habe überlebt, weil mir viele junge Leute geholfen haben, ins Krankenhaus zu kommen, sonst wäre ich verblutet." Garcia glaubt, dass die Gewalt der umstrittenen Sondereinheit ESMAD ein Ausdruck von Angst und Hass sei: "Weil sie fürchten, dass sich etwas verändern wird."

Am 13. Juli erklärte Kolumbiens Vizepräsidentin Marta Lucia Ramirez vor den Vereinten Nationen, die Toten während der seit Ende April ausgebrochenen Proteste seien eine Folge des Vandalismus. Jose Miguel Vivanco, Amerika-Direktor von Human Rights Watch, kommentierte: "Sie hat vergessen zu erwähnen, dass es solide Beweise für mindestens 25 Morde gibt, die auf Polizisten hindeuten."