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Geld kann keinen Frieden kaufen

Von WZ-Korrespondent Andreas Hackl

Politik

Nahost-Krise: Ohne politischen Wandel fließt das Geld aus der EU in eine Sackgasse.


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Jerusalem. "Warum ist unsere Lage so miserabel?", klagt die 55-jährige Palästinenserin Nabila. Regelmäßig kommt sie vom Flüchtlingslager Qaddura ins Zentrum von Ramallah, um sich ihr Geld von der Sozialhilfe abzuholen. Geld, das direkt von der Europäischen Union in ihren Haushalt fließt. Rund 150 Euro sind es, die ihr alle drei Monate zukommen. Doch als Witwe und Mutter eines schwer behinderten Sohnes kann sie so kaum überleben, sagt sie. "Jetzt will mein Sohn auch noch einen Computer, wie soll ich das jemals finanzieren?"

Nabila trägt ein weißes Kopftuch und eine schwarze Robe. Ihr Auftreten strahlt Stärke aus. Aber sie ist auch ausgezehrt vom Leben am Existenzminimum. Und nicht all ihre Probleme sind finanzieller Natur: An einem Freitag wollte sie mit ihrem Sohn nach Jerusalem, um dort in der Al-Aqsa Moschee zu beten. Doch der 28-Jährige wurde am israelischen Kontrollpunkt zurückgewiesen, weil er die Auflagen für die Durchreise nicht erfüllte. Nur Männer über 50 wurden reingelassen. "Dieses Leben macht mich müde. Ich hoffe, es wird sich bald etwas ändern", sagt Nabila.

Von Armut Betroffene, Lehrer, politische Funktionäre - zehntausende Palästinenser profitieren direkt von den Hilfsgeldern der Europäischen Union. Allein im letzten Jahr flossen 426 Millionen Euro aus der EU in die besetzten palästinensischen Gebiete. Damit verfolgt die EU offiziell ein klares langfristiges Ziel: den Aufbau von Institutionen des "zukünftigen demokratischen und unabhängigen palästinensischen Staates". Doch dieses Ziel liegt weiterhin in unabsehbarer Ferne.

Das zeigt auch der Alltag von Palästinensern und Palästinenserinnen wie Nabila. Unter israelischer Besatzung bleibt ihre Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt. Ostjerusalem - die mögliche zukünftige Hauptstadt eines palästinensischen Staates - steht unter israelischer Kontrolle und wird durch militärische Kontrollpunkte und der Mauer vom Westjordanland abgeschirmt. Das Land, auf dem der Staat entstehen soll, schrumpft stetig durch den israelischen Siedlungsbau. Und die laufenden Friedensverhandlungen unter Vermittlung der USA sind offenbar so gut wie gescheitert. Hat die Europäische Union ihr erklärtes Ziel verfehlt? Wie lange kann die Finanzhilfe legitim bleiben, wenn die eigentlichen Probleme außerhalb des Einflussbereichs der Geldpolitik liegen?

"Was finanzieren wir hier?"

Die wirtschaftliche und politische Finanzhilfe in den besetzten palästinensischen Gebieten ist angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise vieler Mitgliedsländer zunehmend interner Kritik ausgesetzt. Gleichzeitig wird in anderen Krisenherden, wie etwa in Syrien und Mali, dringend Geld benötigt. Unterdessen bleibt unklar, was die EU-Politik in Palästina tatsächlich bewirkt.

"Bislang existiert der palästinensische Staat nicht. Der Punkt ist: Was finanzieren wir hier? Helfen wir Israel dabei, die Besatzung aufrechtzuhalten, oder helfen wir tatsächlich den Palästinensern, unabhängig zu werden?", sagt Caroline du Plessix, eine französische Politikwissenschaftlerin, die auf EU-Politik in Israel-Palästina spezialisiert ist. "Den Staaten der EU wird immer mehr bewusst, dass ihre Hilfe keinen unabhängigen palästinensischen Staat ermöglicht hat."

Eine drastische Kürzung der EU-Hilfe ist derzeit zwar unwahrscheinlich, doch seit Beginn der laufenden Friedensverhandlungen drängte die Europäische Union mit einer Mischung aus Drohungen und Anreizen an die Öffentlichkeit. "Es wird ein Preis zu zahlen sein, sollten diese Verhandlungen fehlschlagen", sagte etwa der EU-Botschafter in Israel, Lars Faaborg-Anderson. Im Dezember zitierte die israelische Zeitung "Haaretz" einen weiteren Vertreter der EU, welcher eine Kürzung der EU-Finanzhilfe im Fall ergebnisloser Friedensgespräche androhte.

Gleichzeitig will die EU Israel und die Palästinenser aber auch durch Anreize zu einem Friedensschluss motivieren. "Derzeit soll unser Ansatz beide Parteien ermutigen, die einmalige Gelegenheit dieser Friedensverhandlungen zu nutzen", erklärt der EU-Repräsentant in Jerusalem, John Gatt-Ruttner. Dabei stellt er Israel und den Palästinensern besseren Zugang zu europäischen Märkten, Handelspartnerschaften und Investitionen in Aussicht.

Für Ofer Zalzberg des renommierten Think Tanks "International Crisis Group" erscheint dennoch eine schrittweise Kürzung der EU-Hilfe möglich, sollten Verhandlungen scheitern. "Aber nicht mehr als 10 Prozent im Jahr. Die europäische Führung will keine Instabilität oder humanitäre Krise herbeiführen."

Staatenbau und Abhängigkeit

Aus den 426 Millionen Euro EU-Hilfe im letzten Jahr flossen 168 Millionen direkt in das Budget der Palästinensischen Autonomiebehörde, die Quasi-Regierung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), die jedoch seit der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen 2007 nur mehr im Westjordanland agiert. Diese direkten Zahlungen fließen in das Haushaltsbudget der Autonomiebehörde, die damit die Löhne von zehntausenden Beamten bezahlt, Sozialhilfe leistet, öffentliche Dienstleistungen instand hält und ihre Institutionen und Ministerien weiter aufbaut.

Es ist kein Geheimnis, dass diese Zahlungen politisch motiviert sind. Die Autonomiebehörde in Ramallah ist abhängig vom Geld der Europäischen Union. Doch genauso ist die EU abhängig von der Autonomiebehörde. Immerhin ist sie das "Staatsorgan im Aufbau".

"Die EU-Hilfe ist strategisch. Ihr Hauptziel ist es, Instabilität zu verhindern. Sie fürchtet den Zusammenbruch der Palästinensischen Autonomiebehörde", sagt Caroline du Plessix. Auch Sami Abu Roza, ein früherer Berater des Palästinenserpräsidenten, kritisiert das System der Abhängigkeit hinter der Finanzhilfe. "Wenn du die guten Absichten hinter dem Geld wegnimmst, ist die Finanzhilfe ein Ersatz für die eigentlichen, echten Lösungen", sagt Abu Roza. Derzeit arbeitet er im Bildungsministerium der Autonomiebehörde, wo er direkt in die Umsetzung von Hilfsgeldern involviert ist. Im Ansatz der EU sieht er eine Art "Wirtschaftsfrieden", die Illusion, dass Wirtschaftshilfe und der Aufbau von Institutionen wahren Wandel herbeiführen werden. Die politischen Ursachen hinter den Problemen bleiben dabei ungelöst. Sogar "bevormundend" nennt er die Einstellung der EU. "Als ob es Geld wäre, was Palästinenser dringend brauchen würden."

Einerseits wird das Geld zwar dringend benötigt, denn unter israelischer Besatzung kann die palästinensische Wirtschaft nicht funktionieren. Und ohne die Hilfe der Europäischen Union würde sich die humanitäre Situation vermutlich drastisch verschlimmern. Doch andererseits, erklärt Abu Roza, schafft die Wirtschaftshilfe die Illusion von Wandel, wo eigentlich kein Wandel stattfindet.

Auch für einen Kollegen von Abu Roza, ein hochrangiger Beamter im Bildungsministerium, der anonym bleiben möchte, trägt die Finanzhilfe nicht zur Unabhängigkeit bei. Ohne Kontrolle über die eigenen Grenzen und Steuern könne kaum von wirtschaftlicher Unabhängigkeit gesprochen werden, sagt der Funktionär. Außerdem stehe das gesamte sogenannte C-Gebiet des Westjordanlandes, rund 60 Prozent des Territoriums, unter israelischer Kontrolle. "Internationale Hilfe kann die Träume der Palästinenser nicht erfüllen."

Kritik des Rechnungshofs

Kritik an der europäischen Hilfspolitik in Palästina kam kürzlich auch von einem Bericht des Europäischen Rechnungshofs. Besonders deutlich fiel die Kritik an den EU-Gehaltszahlungen für Beamte der Palästinensischen Autonomiebehörde im Gazastreifen aus, die seit der Machtübernahme der Hamas faktisch nicht mehr aktiv sind. Die EU unterstützt also die Autonomiebehörde im Gazastreifen, obwohl diese dort nicht mehr tätig ist. Die Empfehlung im Rechnungshofbericht sprach vom "Umleiten dieser Gelder ins Westjordanland". Die EU-Vertretung in Jerusalem wies den Vorschlag jedoch zurück. Das Kalkül ist klar: Werden die Zahlungen an die Beamten der Autonomiebehörde im Gazastreifen eingestellt, verliert die EU dort jeglichen Einfluss. Denn die in Gaza regierende Hamas wird offiziell als Terrororganisation eingestuft.

Die Zahl der EU-finanzierten Beamten der Palästinensischen Autonomiebehörde stieg von 2008 auf 2012 von 75.502 auf 84.320 an: etwa die Hälfte der insgesamt 170.000 Beamten im Westjordanland und im Gazastreifen. In derselben Periode stieg die Summe der EU-Gehaltszahlungen um 39 Prozent. Gleichzeitig haben Mitgliedsstaaten ihre Unterstützung für diese Gehaltszahlungen halbiert, von 21 Millionen Euro im Jahr 2008 auf 10 Millionen im Jahr 2012. Vor allem Spanien musste seine Beitragszahlungen radikal senken. Unter diesen schwierigen Umständen gerät auch die Autonomiebehörde immer mehr ins Wanken. Ein Anzeichen dafür sind die mittlerweile chronischen Verspätungen bei den Gehaltszahlungen.

Wurden zwischen 2008 und Mai 2011 noch alle Löhne rechtzeitig überwiesen, führten Engpässe bei Hilfsgeldern seit Juni 2011 zu teilweise wochenlangen Verzögerungen. Unter Beamten macht sich deshalb zunehmend Unmut breit. Palästinensische Lehrer sind unlängst in den Generalstreik getreten, um sich bessere Löhne zu erkämpfen. Ebenso die Beschäftigten des teils EU-finanzierten UNRWA, der UN- Agentur für palästinensische Flüchtlinge. UNRWA hatte Anfang des Jahres ein Budgetdefizit von rund 47 Millionen Euro. Diese Entwicklungen machen nicht nur deutlich, wie abhängig palästinensische Institutionen und ihre Angestellten von ausländischen Hilfszahlungen sind. Sie zeigen auch, dass diese fremdfinanzierten Löhne Stabilität garantieren. Bleiben sie aus, regt sich Widerstand.

Auch wenn es zwischen Brüssel und Ramallah zunehmend enger wird, bleibt der Geldhahn der EU vorerst offen. Ohne ihn würde sich die humanitäre Lage für Palästinenser definitiv weiter verschärfen. Jene im Gazastreifen ist mitunter bereits am Limit des erträglichen. Offen bleibt die Frage, wie die EU auf einen Fehlschlag der Friedensverhandlungen reagieren wird. "Geld kann keinen Frieden kaufen", sagt der palästinensische Politologe Alaa Tartir. Dennoch gibt es für den palästinensischen Lehrer Said Samara, dessen Gehalt von der EU finanziert wird, viele Gründe, der Europäischen Union zu danken. "Als Lehrer kann ich nur hoffen, dass die Hilfe fortgesetzt wird", sagt er im Bildungsministerium in Ramallah. "Doch als Lehrer und für meine Schüler brauche ich auch die Hoffnung auf ein unabhängiges Palästina."