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Brüssel setzt bei Rechtsstaatlichkeit auf finanziellen Druck. EU-Parlamentsvize Metsola sieht "wichtiges Zeichen".
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Regelverstöße zählen in der Europäischen Union zum Alltagsgeschäft. Allein im Jahr 2019 leitete die EU-Kommission als Hüterin der Verträge 1.564 Vertragsverletzungsverfahren gegen die damals noch 28 Mitgliedstaaten ein; auf Österreich entfielen 66, negativer Spitzenreiter war Spanien mit 85, Musterschüler Litauen kam dagegen nur auf 27 Verfahren. In den meisten Fällen geht es um versäumte Fristen und technische Fragen, Routine für alle Seiten.
In Einzelfällen geht es jedoch ans Eingemachte. Dass sich einzelne Mitgliedstaaten gegen Grundprinzipien der EU wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie stellen könnten, war bis vor wenigen Jahren noch außerhalb des Vorstellungshorizonts all jener Institutionen, die über deren Einhaltung wachen. Entsprechend rat- und hilflos fielen die ersten Reaktionen aus, als etwa die Regierungen von Ungarn, Polen oder Rumänien damit begannen, an den demokratischen Spielregeln und rechtsstaatlichen Schrauben zu eigenen Gunsten zu drehen. Zwar sehen die EU-Verträge durchaus Sanktionen für solche Fälle vor - den Entzug des Stimmrechts als schärfste -, allerdings bedarf es dazu Einstimmigkeit im EU-Rat. Und die ist nicht zu haben, wenn sich mehrere Regelbrecher im Rat der Regierungschefs gegenseitig die Mauer machen.
Nun besinnt sich die EU des ältesten und wohl wirkungsvollsten Druckmittels in Friedenszeiten: Geld, oder besser gesagt, dessen vorläufige Nichtauszahlung. Vergangene Woche beantragte die Kommission Finanzsanktionen gegen Polen, weil dieses sich nicht an die Vorgaben des Europäischen Gerichtshofe bei der Justizreform hält. Damit wäre ein Präzedenzfall gesetzt, dem weitere folgen könnten. Man darf davon ausgehen, dass andere Regierungen das Signal verstehen.
Finanzieller Druck könnte auch kontraproduktiv wirken
Seitens des EU-Parlaments wird die Koppelung von Finanzmitteln an Bedingungen der Rechtsstaatlichkeit schon länger vehement gefordert. Entsprechend nennt Roberta Metsola (EVP), Vizepräsidentin des EU-Parlaments aus Malta das nunmehrige Vorgehen "einen Paradigmenwechsel", der gleichzeitig mit der Pandemie stattgefunden habe: "Das ist eine wichtige Weichenstellung, weil die Zurückhaltung von EU-Mitteln ein wirksames politisches Druckmittel darstellt", erklärt Metsola bei einem Treffen mit der "Wiener Zeitung".
Auch Lukas Mandl, EVP-Abgeordneter aus Niederösterreich, hält die Politisierung europäischer Geldflüsse für legitim und sogar notwendig: "Das ist ein enorm wichtiges Zeichen nach innen, weil jede Bürgerin und Bürger der EU einen Anspruch haben muss, unter dem Schutzschirm des liberalen Rechtsstaats zu leben. Hier muss die Union auch als Vorbild für den Rest der Welt dienen."
Diese Strategie birgt allerdings auch Risiken für die Union: Potente Geldgeber auf der Suche nach Einfluss gibt es auch außerhalb der EU. Welche Folgen das haben kann, zeigte sich in der Finanzkrise, als Griechenland und andere klamme Staaten strategisch wichtige Beteiligungen wie Häfen an chinesische Investoren verkauften. Auch heute haben Staaten wie Polen, Ungarn oder Rumänien Alternativen, nicht nur China und Russland. Dadurch gewinnen außereuropäische Mächte Einfluss auf innereuropäische Entwicklungen. Das ist etwas, was nicht im Interesse der EU sein kann. Für Mandl muss die EU "den Spagat schaffen, diesen Staaten entschlossen entgegenzutreten, ohne dabei die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu gefährden", wo es um europäische Interessen, aber auch um Schnittmengen mit diesen Drittstaaten gehe.
Nicht nur Ungarn und Polen, auch Malta im Zwielicht
Und auch für innenpolitische Zwecke lässt sich die neue Brüsseler Strategie instrumentalisieren: "Meine Sorge ist, dass die betroffenen Regierungen den Spieß umdrehen, und vor ihren Bürgern die EU für die Folgen der ausbleibenden Gelder verantwortlich machen. Das würde die Gräben zwischen diesen Staaten und der Union weiter vertiefen. Für eine solche Entwicklung gibt es bereits da und dort konkrete Anzeichen. Das gilt es zu verhindern und klarzustellen, dass mit dem EU-Beitritt konkrete Verpflichtungen einhergehen, an denen nicht gerüttelt werden kann", sagt Metsola.
Auch dies liefe den Kerninteressen Europas entgegen. Anders als bei Beitrittskandidaten gibt es bei Mitgliedstaaten keine wirksamen Mechanismen, diese Prinzipien durchzusetzen, umso stärker müsse sich die EU für deren Aufrechterhaltung einsetzen, "um eine Erosion der europäischen Institutionen zu verhindern", ist Mandl überzeugt.
Malta, die Heimat Metsolas, glänzt derzeit zwar EU-weit mit einer hohen Impfquote, allerdings plagt die kleine Inselgruppe zwischen Sizilien und Libyen mit ihren rund 500.000 Einwohnern auch ein hartnäckiges Netz illegaler Verflechtungen von Wirtschaft und Politik. Diese gerieten 2017 durch die Ermordung der Journalistin Daphne Caruana Galizia ins Visier der Öffentlichkeit. "Ohne die Arbeit investigativer Journalisten, die nach den kriminellen Verstrickungen bis in die höchste Politik hinein recherchieren, werden wir aus diesem Sumpf nicht herauskommen", sagt Metsola. Verantwortlich dafür macht die Konservative vor allem die regierenden Sozialdemokraten: "Die Regierung schüchtert Bürger und Medien immer noch ein und diese haben Angst, offen und ungeschützt ihre Meinung zu äußern." Es werde ein langer harter Weg für ihr Land werden, das durch den Mord erschütterte Ansehen Schritt für Schritt wieder herzustellen. Dass sich jetzt Staatspräsident George Vella erstmals bei der Familie entschuldigt hat, gehe in die richtige Richtung.
Metsola mögliche Kandidatin für Sassoli-Nachfolge
Die 42-jährige konservative Europapolitikerin gilt als Kandidatin der EVP für die Wahl zum Vorsitz des EU-Parlaments. Diesen nimmt derzeit der italienische Sozialdemokrat David Sassoli ein, zur Halbzeit der Legislaturperiode soll gemäß einer Vereinbarung mit der S&D-Fraktion ein Vertreter der EVP zum Vorsitzenden gekürt werden. Der Job war eigentlich für den Fraktionschef Manfred Weber vorgesehen, doch dieser bewirbt sich nun für das Amt des Parteipräsidenten der EVP. Und noch ist zudem unklar, ob sich die S&D-Fraktion an die Absprache mit der größten Fraktion, der EVP, noch immer gebunden fühlt.