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Gelebter Albtraum

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

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In Chemnitz, der drittgrößten Stadt Sachsens, wird gerade der Albtraum der politischen Gegenwart gelebt. Natürlich inszeniert, weil alles in unserer Zeit der unwiderstehlichen Logik des gezielten Ins-Bild-Setzens entspricht, aber deshalb um nichts weniger real. Wie soll man es sonst nennen als einen Albtraum, wenn Tausende mit einem harten Kern Rechtsradikaler in ihrer Mitte die politische Auseinandersetzung auf die Straße tragen und dabei Jagd auf Menschen machen, denen man ihr Fremdsein ansieht; wenn sich die Auseinandersetzung mit Linksextremen in Gewalt entlädt; und wenn die Polizei bei all dem den Eindruck hoffnungsloser Überforderung vermittelt. Und diesen Eindruck dann auch offen eingesteht.

Auch das gehört zum politischen Vermächtnis von Kanzlerin Angela Merkel: dass in ihrer Ära eine Horde Rechtsradikaler die Hoheit über die Straße für sich beansprucht und eine Partei, die die FPÖ locker am rechten Rand überholt, sich als zweistellige Kraft im Parteiensystem der Bundesrepublik etablieren konnte. Die deutsche Kanzlerin für diese Entwicklung stellvertretend ans Kreuz zu schlagen, wie es ihre Kritiker tun, ist freilich zu billig. Genauso wenig, wie Merkel im Alleingang die EU vor dem Zusammenbruch gerettet oder als Letzte gegen Donald Trump, Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan & Co steht, ist ihre Politik die alleinige Ursache für den Aufstieg der AfD; oder auch nur der Unverschämtheit, mit der nun Rechtsextreme einen neuen Zeitgeist zu proklamieren versuchen.

Merkel hat lediglich einen Zeitgeist verkörpert, der sich in wesentlichen Teilen als Irrweg erwiesen hat. Erstens folgt Politik keinem Naturgesetz, sondern notwendige Mehrheiten müssen jedes Mal aufs Neue erstritten werden. Und dafür sind, zweitens, Parteien mit klaren unverwechselbaren politischen Profilen unverzichtbar. Stattdessen hat Merkel Konflikte wegmoderiert und Unterschiede verwischt. Wenn nicht die Parteien diesen demokratischen Streit um den besten Weg organisieren und stellvertretend für die Bürger öffentlich austragen, überlassen sie das Feld den Extremisten außerhalb des Verfassungsbogens. Und sie ermöglichen es, dass Parteien von diesen Rändern in die demokratischen Institutionen drängen.

In Deutschland, ausgerechnet in Deutschland, ist dieses Szenario nun Realität. Nicht gleichsam über Nacht, sondern Zug um Zug als Konsequenz größerer Versäumnisse. Ein Lehrbeispiel für das größere Europa. Dazu gehört auch, dass der Kampf gegen den Anspruch der Rechtsradikalen, die Straße zu beherrschen, nicht den Linksextremen überlassen werden darf. Das ist Sache der Demokraten.