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Geliebter Bruchpilot

Von Michael Schmölzer

Politik

Alexis Tsipras ist in Europa zum Inbegriff personifizierter Inkompetenz geworden, die Griechen sehen das anders.


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Athen. Nicht wenige politische Kommentatoren haben bereits ein Requiem auf Alexis Tsipras, angestimmt. Auf den ersten Blick sah es Anfang Juli tatsächlich nicht gut aus für den umstrittenen Syriza-Politiker, der sich im Schuldenstreit lange ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Gläubigern geliefert hat. Das, was am Ende dabei herausgekommen ist, käme einer totalen Niederlage, einer Kapitulation gleich, hieß es.

Objektiv betrachtet sind die Sparauflagen, die Athen umsetzen muss, mehr als hart. Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble triumphierte, während sich sein griechischer Rivale Yanis Varoufakis in den Augen seiner zahllosen Kritiker wie ein geprügelter Hund von der politischen Bühne verabschieden musste.

Jetzt, so heißt es, steht Tsipras vor dem Scherbenhaufen seiner populistischen, radikalen, ja fahrlässigen Politik. Fast ein Drittel seiner Syriza-Abgeordneten, darunter enge Vertraute, kehren ihm den Rücken und wollen sich abspalten. Noch in dieser Woche könnte Tsipras die Vertrauensfrage stellen - die er wohl verlieren würde. Das verdiente Ende also für einen politischen Totalversager, der auf leichtfertige Weise mit dem Schicksal der Euro-Zone und überhaupt ganz Europas gespielt hat?

Nein. Denn während noch nicht klar ist, wie viele Sympathien die linken Syriza-Abweichler auf sich vereinen könnten, wird immer deutlicher, dass die Neuwahlen, die zwangsläufig auf die verlorene Vertrauensabstimmung folgen würden, genau das sind, was Tsipras braucht. Während ihn griechische und europäische Politiker gerne loswerden wollen, wird er vom eigenen Volk geschätzt - und das scheinbar mehr denn je.

Syriza-Strategen spekulieren bereits mit einer absoluten Mehrheit bei dem Votum, das es in wenigen Wochen geben könnte. Laut Umfragen sieht tatsächlich alles nach einem Erfolg für die Tsipras-Getreuen aus. Das, obwohl die Griechen mehr denn je die schwarzen Schafe Europas sind. Und beispielsweise wochenlang nicht mehr als 60 Euro täglich vom Bankomaten beheben konnten und sich dafür - so legen es viele Fotos nahe - stundenlang anstellen mussten. Der Lohn für die Entbehrungen war dann das scheinbar völlige Einknicken der eigenen Regierung vor den Forderungen der Gläubiger.

Doch die Mehrheit der Griechen will die Schuld dafür nicht der eigenen Regierung anlasten: Man hat den Gläubigern und deren Plänen in einer Volksabstimmung eine klare Absage erteilt, geholfen hat es nichts. Nun richtet sich der Missmut gegen Europa, das scheinbar ohne Rücksichtnahme seine Bedingungen diktiert hat und deshalb Schuld an der Misere trägt. Viele Griechen sind enttäuscht, fühlen sich von Europa nicht respektiert. Premier Tsipras ist in ihren Augen nicht eingeknickt, er wurde schlichtweg erpresst. Hartnäckig hält sich das Gerücht, dass die Verhandlungen mit Griechenland überhaupt nur ein einziges Ziel gehabt hätten - nämlich die Regierung in Athen zu stürzen.

Umfragen nach der Volksabstimmung am 5. Juli, bei der mehr als 61 Prozent der Griechen das "Diktat" der Gläubiger ablehnten, zeigen, dass Tsipras in den Augen von 75 Prozent der beste Premier ist.

Er gilt immer noch als der Mann, der gekämpft hat, das Beste für Griechenland wollte und nun auf Druck der Europäer Böses tun muss. Dieser Eindruck wird von Tsipras nach Kräften gefördert: Seht her, sagt er augenzwinkernd, ich werde die geforderten Maßnahmen umsetzen, auch wenn ich ganz klar nicht der Meinung bin, dass das der richtige Weg ist. Die Gläubiger machen derartige Ansagen nervös; nicht anders sind die zahlreichen Drohungen zu werten, dass man Griechenland ganz genau überwachen werde.

Weiße Weste

Die Tsipras-Regierung ist bei den Griechen auch deswegen beliebt, weil sie als sauber gilt. Ihre Vorgängerregierungen, davon sind die Griechen überzeugt, hätten die Korruption nie wirklich bekämpft, weil sie selbst zu tief darin verstrickt gewesen seien.

Vielleicht ist es Tsipras, der den Augias-Stall ausmisten und Reformen umsetzten wird. Das Beispiel des ehemaligen Reykjaviker Bürgermeisters Jon Gnarr zeigt, dass auch unkonventionelle Linkspolitiker zu einer harten Reform- und Sparpolitik fähig sind, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt. Diejenigen, die Syriza jede wirtschaftspolitische Kompetenz absprechen, wurden zuletzt jedenfalls einigermaßen irritiert: Demnach ist die griechische Wirtschaft im zweiten Quartal kräftig gewachsen. Die genauen Gründe dafür sind noch nicht erhoben.