Zum Hauptinhalt springen

Gemeindebau als "Weltkulturerbe"

Von Markus Kauffmann

Kommentare
Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Welche Revolution vor hundert Jahren stattfand, kann nur ermessen, wer sich die Tristesse der Hinterhöfe und schwindsüchtigen Kinder in den Mietskasernen vor Augen führt.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 16 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Auf einem der Blätter des "Miljöh"-Malers Heinrich Zille rühmt sich ein kleines schwindsüchtiges Mädchen vor seiner Mutter: "Wenn ick will, kann ick Blut in den Schnee spucken…" Auf einem anderen Blatt heißt es: "Mutta, jib die zwee Blumtöppe raus, Lieschen sitzt so jerne ins Jrüne!"

Sardonischer lässt sich das Massenelend der Gründerzeit nicht beschreiben, wo oft in sechs tristen Hinterhöfen 2000 Menschen in 300 Wohnungen kaserniert waren.

"Ich bin jetzt Weltkultur-erbin", strahlt eine Bewohnerin der "Weißen Stadt" im Norden Berlins, wegen seiner Straßennamen - Baseler, Genfer oder Emmentaler Straße - auch "Schweizer Viertel" genannt. Ende der Zwanziger Jahre entstanden hier, an der Aroser Allee auf ehemaligem Dorfgelände, 1300 Wohnungen in Rand- und Zeilenbauweise, großzügig mit Grünzügen durchsetzt. Zwar waren die Wohnungen im Schnitt nur 50 Quadratmeter groß, dafür aber hatten sie Bad, WC und Zentralheizung. Und sogar eine Loggia, wie sie sonst nur Großbürgern vorbehalten war. Das namensgebende Weiß der Fassaden wird reizvoll kontrastiert von lebhaften Farbakzenten an Dachüberständen, Fensterrahmen, Regenfallrohren und Eingangstüren. Einzigartig auch die vorausschauende Ausstattung mit Infrastruktur: 25 Einkaufsläden, ein Kinderheim, eine Arztpraxis, ein Cafe, und ein Fernheizwerk mit angegliederter Zentralwäscherei gehörten dazu.

Die Revolution im städtischen Wohnungsbau wurde in dieser Woche von der Unesco mit dem besonderen Titel des "Weltkulturerbes" geadelt - sechs bedeutende Berliner Wohnsiedlungen der klassischen Moderne als "Gegenmodell zur Bauspekulation mit ihren Mietskasernen", die den kommunalen Städtebau bis heute prägen. Insgesamt verfügt die Stadt an der Spree damit über drei Welterbestätten: die Siedlungen der Moderne, die Museumsinsel und die preußischen Schlösser und Gärten, an denen auch das umliegende Brandenburg teilhat.

Sehenswert ist die "Hufeisensiedlung", ein Gemeinschaftswerk des Schöpfers der "Weißen Stadt", Martin Wagner, und des von den Nazis als "Kulturbolschewist" verfemten Bruno Taut.

In dem südlichen Arbeiterbezirk Neukölln, auf einem ehemaligen Rittergut, entstand ab 1925 eine Großsiedlung für 5000 Menschen. Taut integrierte Architektur und Topographie und plante rund um einen eiszeitlichen "Pfuhl", einem flachen Dorftümpel, einen hufeisenförmigen Wohnungskomplex. Dreigeschossige Zeilenbauten mit Etagenwohnungen umrahmen dabei niedrigere, zweigeschossige Einzelhausreihen.

Zukunftsweisend nimmt die gleichfalls ausgezeichnete Großsiedlung Siemensstadt das Modell der aufgelockerten, durchgrünten Stadt vorweg. Hans Scharoun, Erbauer der Philharmonie, richtete die Zeilenbauten streng in Nord-Süd-Richtung aus und durchflutete so die Wohnungen mit Sonne. Trotz dieser strengen städtebaulichen Figur wirkt das Bild vielgestaltig: "Es zeigt die ganze Spannbreite des Neuen Bauens (...) vom kühlen Funktionalismus eines Walter Gropius über den stark differenzierenden Entwurfsstil Scharouns bis zum organischen Formenreichtum Hugo Härings" (Berliner Senat). Der alte Baumbestand blieb erhalten und betont den landschaftlichen Charakter der Anlage.

Stolz sind die Bewohner schon, haben aber auch Ängste. "Welterbe" zu sein, ist ein Titel ohne Mittel. Besserverdiener könnten in die aufgewerteten Wohnungen ziehen und die Mieten in die Höhe treiben. Und die Sanierungskosten müssen aufgebracht werden. Nicht jedes Erbe ist Gewinn, sagt das Sprichwort - und dieses kann man nicht einmal ausschlagen.

kauffmannsladen@wienerzeitung.at