Großbritanniens Außenminister erhält bei Wien-Besuch Unterstützung für Restriktionen bei Sozialleistungen für EU-Ausländer.
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Wien/London. Philip Hammond ist auf gutem Wege, zum Stammgast im österreichischen Außenministerium zu avancieren. Erst im vergangenen Oktober machte der britische Außenminister in Wien Station bei seiner "Tour durch die europäischen Länder", um Verbündete bei der Reformierung der EU nach Gusto des Königreichs zu suchen. Hammonds Agenda damals: "Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, der demokratischen Rechenschaftspflicht der EU und der Fairness, mit der die Institutionen der EU arbeiten." Ähnlich klingen auch große Teile des Besuchsprogramms bei Hammonds Amtskollegen Sebastian Kurz am Donnerstag: "Wettbewerbsfähigkeit der EU, das Wirtschaftswachstum und die demokratische Verantwortung."
Hinter den Worthülsen verstecken sich politische Minenfelder. Schließlich lag zwischen den beiden Treffen der Ressortkollegen die britische Unterhauswahl, bei denen die konservativen Tories die absolute Mandatsmehrheit erhielten. Nun müssen sie ihr Versprechen wahrmachen und die Bürger Großbritanniens bis spätestens Ende 2017 befragen, ob das Königreich weiter Teil der EU sein soll - derzeit würden 55 Prozent Ja sagen, 36 Prozent mit Nein stimmen. Der Regierungspartei machen die Unions-feindliche UK Independence Party, aber auch Abweichler aus den eigenen Reihen zu schaffen. Hammond und sein Chef, Premier David Cameron, müssen also substanzielle Zugeständnisse erreichen, damit sie die Abstimmung gewinnen.
Entsprechend samtpfotig trat Hammond in Wien auf. Die EU habe in der Vergangenheit eine "unglaubliche Flexibilität" bei der Lösung von Problemen bewiesen. Daher sei er überzeugt, dass das auch hier gelingen werde. "Eine weitere Integration der Länder der Eurozone ist notwendig und wir wollen dem nicht im Wege stehen", konstatierte der Außenminister. Dennoch müsse es für deren Nicht-Mitglieder wie Großbritannien möglich sein, Teil der EU und des Binnenmarktes zu sein und an weiteren Integrationsschritten nicht teilzunehmen.
Die Angst in der fünftgrößten Weltwirtschaft ist enorm, mit einem "Brexit", dem britischen Austritt, plötzlich den Zugang zum 500 Millionen Einwohner großen gemeinsamen Markt zu verlieren. Banken überlegen, ihre Sitze aus London zu verlegen, Anleger halten sich mit Investitionen zurück, solange politische Unklarheit herrscht.
Sorge bereitet dem britischen Außenminister auch die Einwanderung. Man müsse das Sozialsystem schützen und sicherstellen, dass Migranten, die in den Arbeitsmarkt drängen, nicht bei ihrer Ankunft Anspruch auf Sozialleistungen hätten, so Hammond. Sie müssten zum Sozialsystem über mehrere Jahre beitragen, ehe sie Anspruch auf Auszahlungen hätten. Außerdem müsse verhindert werden, dass Sozialleistungen für Familienmitglieder, die nicht in Großbritannien lebten, beansprucht werden.
Mehr eingezahlt als erhalten
Bereits seit 1993 wandern jedes Jahr mehr Personen nach Großbritannien ein als wegziehen. Mit der Erweiterung der EU um zehn mittel- und osteuropäische Staaten im Jahr 2004 stieg die Zahl nochmals stark an. Alleine im vergangenen Jahr wanderten 374.000 Personen zu. Von diesen stammt allerdings weniger als die Hälfte aus EU-Länder: Sie stellen 178.000 Neo-Einwohner, während 197.000 Ausländer von außerhalb der Union kommen, errechnete der Think Tank "Migration Watch UK".
Noch dazu ist die sogenannte "Armutsmigration" nach Großbritannien widerlegt: 60 Prozent der Zuwanderer aus West- und Südeuropa haben einen akademischen Abschluss, aber auch jeder vierte Osteuropäer. Wie zwei Forscher des University College London errechneten, zahlten Einwanderer aus der EU zwischen 2000 und 2011 rund 64 Prozent mehr an Steuern, als sie an Sozialleistungen erhielten; in Summe 15 Milliarden Pfund. Auch osteuropäische Einwanderer, die oft dem Verdacht des "Sozialschmarotzertums" ausgesetzt sind, trugen demnach um 12 Prozent oder 5 Milliarden Pfund mehr zum Steueraufkommen bei, als sie an Sozialleistungen bekamen.
Die britischen Vorschläge im Sozialbereich sind somit nicht finanziell fundiert, sondern ideologisch grundiert. Kurz jedoch schlug sich am Donnerstag auf die Seite der britischen Regierung und betonte laut APA, dass Österreich ein ganz ähnliches Problembewusstsein habe. Zu schützende Niederlassungsfreiheit bedeute nicht, sich das beste Sozialsystem in der Europäischen Union aussuchen zu können. Daher werde man hier gemeinsam nachschärfen müssen, denn dies könne die Sozialsysteme in einigen Länder überfordern, wenn man bedenke, dass etwa "die Mindestsicherung in Österreich wesentlich höher ist als zum Beispiel das Durchschnittseinkommen in einem Land wie Rumänien". Die Aussage des Außenministers rief die grüne Sozialsprecherin Judith Schwentner auf den Plan: "Kein Mensch kann nach Österreich kommen und sofort Mindestsicherung erhalten. EU-BürgerInnen müssen zumindest ein Jahr in Österreich arbeiten und somit Steuern und Beiträge zahlen, ehe sie überhaupt einen Anspruch auf Mindestsicherung haben, Nicht-EU-BürgerInnen sogar zumindest fünf Jahre. Wer dies anders darstellt, sagt entweder wissentlich die Unwahrheit oder hat schlicht keine Ahnung, wovon er redet."
Angesichts der erstarkten rechtspopulistischen Parteien ist davon auszugehen, dass Großbritannien sie Sozialkarte offensiv weiterspielt. Inwiefern diese und andere Forderungen verankert werden, ist noch völlig offen. Bei gravierenden Reformen müsste der Vertrag über die Arbeitsweise der EU geändert werden, wofür Einstimmigkeit unter allen Unionsländern notwendig ist. Der 28-jährige Kurz meinte am Donnerstag jedoch vielsagend: "Ich bin auch fest davon überzeugt, dass der Vertrag von Lissabon (aus dem Jahr 2007, Anm.) nicht der letzte Vertrag ist, den ich erleben werde."